13.08.07

Society is a hole it makes me lie to my friends

Titel:
SOCIETY IS A HOLE IT MAKES ME LIE TO MY FRIENDS

Aufgeführt am 11.08.2007

Aufführungsort / Kontext:
Das Konzept Ladengalerie 'unlimited liability' in Hamburg-St.Georg ist ein Projekt eines Einzelkünstlers, der an diesem Ort versucht, verschiedene (vermeintlich kapitalismuskritische) künstlerische Positionen zur Disposition zu stellen und die ausgestellte Kunst unter bestimmten Maßregeln zu verkaufen:
Es dürfen keine Kunden mit einem Kapitalguthaben von mehr als 50.000 Euro einkaufen. Bei nachweislichem Verstoß kann gerichtlich gegen den Käufer vorgegangen werden. Kein verkäufliches Objekt darf über 30 Euro kosten. Es wird keine Malerei ausgestellt und verkauft.
Die Ladengalerie ist nur während der Sommermonate geöffnet. Finanziell wurde sie dieses Jahr von einer Anwohnerinitiative unterstützt. Die unbewohnbaren Souterrainräume können gegen eine geringe Summe gemietet und genutzt werden.



Dauer:
40min

Materialen:
- Kostüm Itty: schwarze Leggins, schwarzes T-shirt mit selbstgenähtem, modifiziertem Chanel-Logo, Goldschmuck
- Kostüm Legasto: ATC- Maske "Anonymer Künstler"
- Monitor verbunden mit Kamera
- Tastatur
- Tisch, Stuhl
- 2 Mobil Telefone
- Malerei-Utensilien (Farbe, Leinwand, Pinsel, Staffelei)
- CD-Player mit regelmäßigen Applaus-Sound (wie bei Tennismatch)

Performance Aufbau/Performance Ablauf:

Itty setzt sich auf den Stuhl vor dem Monitor und tippt auf der Tastatur herum, bis alle Gäste ihre Steh- und Sitzplätze gefunden haben.
Legasto richtet sich in dem geschlossenen Nebenraum so vor der Kamera aus, daß nur sein Kopf im Monitor zu sehen ist. Er beginnt, ein Bild von der Kameralinse zu malen. Das Publikum sieht auf dem Monitor im anderen Raum seinen Kopf, nicht jedoch, was er macht. Es kann aber ahnen, daß es sich um Malen handelt.
Immer wenn Applaus von CD ertönt, tritt Legasto einen Schritt zurück und betrachtet das Bild. Er schaut dafür immer abwechselnd in die Linse und dann unterhalb der Linse auf die Leinwand, die das Publikum nicht sieht. Diese Tätigkeiten wiederholt er monoton.
Itty liest unterdessen deutlich und trocken den Text, ist dabei halb zum Publikum, halb zum Monitor ausgerichtet.
Am Ende des Textes ruft Itty mit dem Mobiltelefon Legasto an. Dieser nimmt nicht ab, sondern beginnt in die Kamera zu singen: Society is a hole, it makes me lie to my friends. Der Ton wird nicht über den Monitor übertragen, ist aber durch die Tür des Nachbarraumes zu hören (so wie zuvor das Klatschen).
Itty steht nach nicht allzu langer Zeit auf, geht durch das Publikum hindurch aus dem Raum hinaus, hinein zu Legasto, der die Übertragung beendet, indem er die Kamera ausschaltet.



















SOCIETY IS A HOLE IT MAKES ME LIE TO MY FRIENDS
(Text)

Ein kleiner Raum
An der Decke wellen sich einzigartige Tapeten
Ein Wasserschaden im Stockwerk darüber
Es riecht feucht
Nur wenig Licht fällt durch die vergitterten Fenster
Auf einen einfachen Holztisch mit beiliegender Selbstbauanleitung
Darauf zwei Plattenspieler und ein Mischpult
An der Wand über dem Tisch ein großformatiges Gemälde
Behauptungen:
Wenn Sie mehr als 50.000 Euro Vermögen haben, können Sie hier nicht einkaufen.
Eine Frau, ein Mann.
Mehrere Zuschauer.

Ich kann mir nicht leisten, hier nichts zu verkaufen.
Ich kann mir nicht leisten, hier etwas zu verkaufen.
Ich habe gestern ein gefälschtes Chanel T-shirt bei H&M geklaut. Genauer gesagt, ich habe es nicht geklaut- ich bin nämlich erwischt worden von einem Ladendetektiv mit Gipsarm und gebrochener Nase, der in einer Disco als Türsteher arbeitet, nachts, um sich was dazuzuverdienen. Ich habe ihn erkannt. Aus der Disco. Er wollte meinen Ausweis sehen. Den habe ich nicht dabei gehabt- also sind die Bullen gekommen und haben mich mitgenommen. Ich habe nur eine Chance gehabt: mich nach Hause fahren lassen, also zu meiner Meldeadresse, wo ich nicht wohne, aber den Schlüssel habe. Es war eine richtig blöde Situation. Ich bin in das völlig chaotische Zimmer einer Bewohnerin rein, die war zum Glück nicht Zuhause.
In dem Zimmer ist nur so ein schmaler Gang zum Bett hin frei, alles voll mit Bierdosen, Hundespielzeug und Büchern, die neben dem Kamin bis zur Decke aufgestapelt sind. In diesem ganzen Zeug hab ich dann so getan, als würde ich meinen Ausweis suchen. Die Bullen haben sich mit ins Zimmer reingequetsch, es war eng und ich habe die ganze Zeit ihre Currywurstfahnen gerochen in meinem Nacken. Die Wurst stammte bestimmt von einer der vier oder fünf Currywurstbuden am Pferdemarkt, die seit etwa zwei Jahren einen Konkurrenzkrieg simulieren, dabei gehören bestimmt alle ein- und demselben Besitzer.
Ich habe also nachgedacht über Wurst und Wettbewerb und dabei in diesem fremden Zimmer in dem ganzen rumliegendem Müll vermeintlich nach meinem Ausweis gesucht- gesucht und gesucht: auf dem Glastisch unter Haufen von Tabakkrümeln, Fernsehzeitungen, Simpsonscomics und Donald Duck-Heften, auf dem Boden unter selbstgebrannten Dvds und Klamotten, die überall in Haufen rumlagen, hab im Altwäschesack gewühlt und unter der Matratze nachgeschaut- voller Angst, gleich 'ne Dose Peace zu finden oder Koks oder so. Oder daß die richtige Bewohnerin nach Hause kommt, Horror. Ich bin immer hektischer geworden. Oh mann, die Bullen haben auf jeden Fall gedacht, ich gehör’ eingesperrt.
Aber wenigstens war’s wohl ziemlich glaubwürdig, als ich dann irgendwann meinte, ‘also den Ausweis, den muss ich wohl verloren haben’. Müsst’ ich neu beantragen, ob das ginge?’ Die Bullen meinten, sie schickten die Strafschriften dann her mit der Post, wär’ ja offensichtlich, daß ich hier wohnen tät’, in dem Müll, so eine Schlampe wie ich. Und was ich gewollt hätte überhaupt mit dem Chanel-Shirt, haha. ‘Mich bewerben, um Arbeit. Putzen gehen.’ ‘Jetzt werd' mal nich’ frech!’.
Sie sind dann abgezischt mit den Worten: ‘Na, deine Arbeitsstunden kriegst du dann ja bald, hahaha.’ So ist das gewesen.
In Großbritannien und Irland besteht keine Ausweispflicht. Man kann also rein theoretisch, wenn man die Inseln nicht verlässt, sein ganzes Leben in Illegalität verbringen. Aber das heißt dann nicht Illegalität, sondern Staatsbürgerschaft.
Ausweise haben aber dann doch alle, weil sonst darf man nichts zu saufen kaufen und in braunen Papiertüten oder orangenen Plasikbeuteln leise klirrend, fast heimlich, nach Hause tragen. Und auch in den Clubs ist die Kontrolle streng.
Türsteher wollen den Ausweis sehen, oder sogenannte, extra eingeführte, ‘Age-Cards’, damit keine Minderjährigen reinkommen. Hat man es jedoch in den Club geschafft, ist es irgendwie nur ein halber Spaß, denn man darf drinnen nicht rauchen und draußen nicht trinken- eine ungünstige Kombination.
An der Kasse zum Klub arbeitet ein entfernter Bekannter. Er sagt: ‘Dich kenn ich doch. Komm rein, dein Gesicht ist heute dein Stempel.’
Ob ein Richter den Satz sagt: ‘Sie sind zu drei Jahren verurteilt’ oder einer sich Priester nennt und sagt: ‘Sie sind jetzt verheiratet’, in beiden Fällen sind das nur Worte, Schallwellen, die eigentlich gar keine Bedeutung haben, genauso, wie wenn ich zu Ihnen sage: ‘Ich mache dich zum Star’ oder ‘Bring mir ein Glas Gin’.
Aber plötzlich ist man im Gefängnis eingesperrt oder verheiratet. Für mich völlig unverständlich. Woher kommt diese Macht des Wortes. Wie wird sie möglich, es wurden doch nur Schallwellen produziert. Aber die Sprache schafft Verhältnisse.
Ich bin käuflich.
Ich muss da mal widersprechen. Nicht die Sprache schafft Verhältnisse, sondern der, der sie spricht, bzw. die Funktion, die derjenige einnimmt, der sie spricht. Sein Verhältnis zur Macht sozusagen. Also wenn Genet im Knast sitzt und zum Wärter sagt "Ich will dich ficken", dann ist das irgendwie unglaublich toll, weil er kann diesen Satz sprechen- trotz der Verhältnisse der Macht, in denen sich Genet und der Wärter befinden und die dieses Sprechen eigentlich unmöglich machen. (Dieses Sprechen ist nicht selbstverständlich.
Es ist nur manchmal leicht, über Sex zu sprechen, nämlich dann, wenn es wirklich um Sex geht. Und um nichts Anderes. Das scheint jedoch kaum möglich zu sein. Fast unmöglich.
Sprache ist das, was auf andere Sprache angewiesen ist. Sie ist zwangsläufig reaktiv. Ein isoliert stehendes Wort hat keine Bedeutung.
Ich denke an Lydia Lunch. Im Auto unterwegs mit ihrem Liebhaber. Unterwegs zu den Stätten vergangener Verbrechen. Sie hasst ihren Liebhaber. Er fickt sie.
Sie beschreibt die Stadt. New York. Hauseingänge, Treppenaufgänge, Hausflure, Zimmer in Wohnungen, Zimmer in Hotels, Toiletten. Sie schreibt über Körper.
Über Männer, über ihren Vater. In ihren Büchern gibt es nur Sex.
Deshalb kann sie über Alles sprechen.)
Jedenfalls, das Sprechen des Genet im Knast zum Wärter ist nicht selbstverständlich.

Nein, es ist nämlich pervers.
Und es wird auch Folgen haben. Konsequenzen. Und aus dem Knast, den realen Mauern, kommt er damit auch nicht raus.
Muss man ja vielleicht auch nicht. Wir sollten doch davon ausgehen, daß wir alle im Gefängnis sitzen, einem freundlichen und bequemen eben. Und deswegen leugnen wir auch die ganze Zeit, daß wir im Gefängnis sitzen.
Außerdem: ich will dich ficken.
(greift sich an die Eier)
Was ist das denn für ein Scheiß! Verdammt, niemand zwingt einen, sich Totalität anzueignen.
Nein, man versucht einfach, sich zu wehren. Ich will dich ficken.
Und daß der Wärter den Genet ficken will oder fickt, das ist einfach so selbstverständlich, daß es nicht ausgesprochen wird. Normalerweise.
Selbst wenn man nur drei Tage im Gefängnis verbringt wegen Diebstahls oder weil man falsch wohnt, liest man dort Mangels anderer Dinge auch die Gefängnisordnung. Da steht u.a.:’Jede geheime Sprache ist verboten’. Der Staat hat vor einer Kommunikation Angst, die nicht transparent ist, also versucht man eine Geheimsprache zu erfinden. Leider gehören Geheimsprachen zum Wesen des Militärischen. Jede Nation erfindet eine Geheimsprache, wenn sie Krieg führt, auf die sie, bzw. der Staat dann auch das Monopol hat. Die Versuche, durch Geheimsprache subversive Akte zu setzen, sind davon überschattet, daß sich der Staat, der bekämpft wird, ebenfalls einer Geheimsprache bedient.
bracken avoid
corps alba blare
clearance aaas.
altruist astatine angstrom bayou
depress cafe cuisine
dapper conductor decaffeinate breadth
brindle apt card church
concertmaster
british caliph brocade
comprehension deoxyribose
bipartisan bursty disburse
asset bendix
Also spricht man immerzu in der Sprache des Staates, auch wenn man vermeintlich anders vermeintlich Anderes spricht, weil es eben nur eine Sprache gibt, keine Alternative.
Genau:
Wenn Sie mehr als 50.000 Euro Vermögen haben, können Sie hier nicht einkaufen.
Ich arbeite hier umsonst. Der Text, an dem ich ungefähr eine Woche ein Leben lang geschrieben habe, liegt dahinten im Regal, angebrochen, und kostet drei symbolische Euro. Auf dem Kiez arbeite ich zusätzlich nachts für acht Euro die Stunde und kann umsonst saufen und reden. Ab und zu kommt jemand mit einer Zigarette. Was ich erlebe, schreibe ich alles sofort in der Zeit, in der ich hier arbeite, nieder, um es bei Myspace zu verkaufen- nachdem ich eine Woche lang daran gearbeitet habe. In dieser Woche habe ich viel gelesen, bin viel online gewesen und habe gesoffen mit einer Unterbrechung von zwei Tagen, an denen ich mit anderen Leuten getrunken habe, über Arbeit geredet habe und Musik gehört habe, letzteres ebenfalls online. Das ist jede Woche so. Ab und zu kommt jemand mit einer Zigarette und dann wird vor der Tür mein Auto angezündet. Die Scheibe ist dann kaputt, das waren die polnischen Schwarzarbeiter, die schnell abgehauen sind, hat keiner gesehen, aber alle gewusst. Kann man nichts machen. Oder soll man die etwa in Schwierigkeiten bringen, nur so? Dann gehen die in den Knast. Hört sich doch scheiße an.
Dann geh doch raus.
(Ausweiskontrolle).
weiskontrolleaus.
Da muss noch mehr Kontrolle rein, wir sind hier ja nicht befreundet. Es geht um Geld, nicht um Liebe. Das finde ich auch in Ordnung.
Und das hat nichts zu tun mit Kunst oder so.
Mir geht es hier um Sprechen. Was anderes kann ich eh’ nicht. Aus Notwendigkeit. Wenn ich hier was sage, mal fett ausspreche, dann passiert vielleicht was.
(Alle gehen raus und zünden sich an, im gentrifiziert werdenden Viertel mit Jamaica-Bar, wo sogar die Bullen einen VW-Käfer fahren. Das ist ganz niedlich. Alle sind Künstler und halten zusammen. Der Straßenstrich ist nicht weit weg. Die Junkies sollen auch nicht im Hausflur pennen.)
Ein kleiner, schimmeliger Raum mit einem Tresen an einer Längsseite.
Auf dem Tresen schwitzen unter einer Käseglocke Brötchenhälften mit selbstgemachter schwarzer Johannisbeermarmelade. Daneben drei Marmeladegläser mit Rüschen oben rum, klassisch rot-weiß, klassisch blau-weiß kariert. Zur Ansicht. ‘Sowas gibt es heute kaum noch, ist selten geworden, soviel Handarbeit, soviel Einsatz, soviel Herzblut. Die Farbe von Herzblut, reife Johannisbeeren. Probieren Sie mal. Die Schrippenhälfte für nur 29,99.’
Ein ehemaliger Zivi, jetzt Ein-Euro-Jobber in sozialen Einrichtungen, aber immer noch sehr jung, sitzt ketterauchend auf einem Barhocker hinter dem Tresen und spiegelt sich in dem monochromen Hochglanzposter, versuch der Abschaffung (Überwindung, Krieg-Erklärung, Es-geht-ums-Bild) der Malerei, das hinter ihm hängt. Ich beobachte ihn genüßlich, denn er sieht gut aus beim Rauchen.
Nach Rock'n'Roll, nach Stricherjunge, nach unersättlichem, überschwenglichem, leidenschaftlichem Selbstverbrauch. Anachronismus. Festgefroren in seinem Kokon aus Nebel sitzt er da und stößt Rauch aus, mit halbgeschlossenen Augen. Das ist Arbeit. Sowieso projeziere ich eine Menge in ihn herein: nix is’ mit Rock'n Roll und Brennen- auf dem Barhocker hinter dem Tresen sitzt einfach ein ehemaliger Zivi, jetzt Ein-Euro-Jobber in sozialen Einrichtungen, in H&M-Klamotten, Gelegenheitsraucher, jung, der sich zu Tode langweilt, ohne Anstrengung. Und sollte er doch angestrengt sein, Anstrengung verspüren, Anstrengung gar wollen und daher dieses Leben führen, dort hinter dem Tresen im Rauch mit den blutigen Käsebrötchenhälften, dann wird er den Teufel tun und mit mir darüber sprechen. Mit mir: Transvestite Feminine, Kunst studiert, verweigert noch, wahrscheinlich aber nicht mehr lange, das Wort ‘Künstler’ als Antwort auf die Frage nach dem Beruf zu geben, HarzIV, noch einen Monat, muss dann auf den Kiez, mit Kneipenwirten ficken oder auch nicht, aber wenigstens Grillen um einen Job.
Das Bild des Jungen ist trotz oder aufgrund von Illusion schmerzhaft hübsch. Vielleicht doch hingehen, Gin ordern, ihn zwingen, von einem Marmeladebrötchen abzubeißen, daß ihm der Saft das Kinn herunterläuft, bis in sein Unterhemd hinein, Foto davon machen, mit dem Handy und ans nächste Street-Art-Fashionmagazin schicken. Nach drei Praktika dann zu Gruner&Jahr, zum HighArt-Magazin und doch noch der weibliche Larry Kern werden.
Auf einem braunen 70erjahre Kordsofa räkeln sich Teeniejungs, nackt bis auf die Socken, die neonfarbenen Baseballmützen und die Nylonbänder von Festivals an ihren Handgelenken. Die Beine lang ausgestreckt, die Füße auf ihren Skateboards abgestützt, rauchen sie Kette. Nebel wie auf einer Gabba-Party. Auf dem Fußboden vor dem Sofa zwei gigantische Marmeladegläser. Einer der Jungs richtet sich plötzlich halb auf, bückt sich und greift mit der rauchfreien Hand tief in die Marmelade, versenkt langsam den Arm bis zum Ellenbogen, dreht die Hand mit gespreizten Fingern im Glas, genüßlich, langsam, bis zur Unerträglichkeit und holt eine handvoll klebriger Marmelade heraus. Ein Wenig tropft zäh zwischen seinen Fingern herunter, auf sein rechtes Bein, oberhalb vom Knie, läuft von da aus einen spärlich behaarten Unterschenkel herunter, in einem dickflüssigen Streifen bis zu den Adern auf seinem Fuß, bildet dort eine Lache wie geronnenes Blut. Er beugt sich über den Jungen neben ihm und klatscht die handvoll Marmelade auf dessen Bauch. Ein schmatzendes Geräusch ertönt. Der andere Junge stöhnt kurz auf, dreht sich dann zum Ersten hin, der die Hand nur ein wenig zu lang hat liegenlassen auf dem fremden Bauch, um sie gleich wieder wegzuziehen, zwischen seinen Beinen baumeln zu lassen und ab und zu flüchtig die Innenseite seines Oberschenkels entlangzufahren, den Blick auf sein Gegenüber gerichtet. Das verschmiert sich großflächig ruhig, genau, sogar präzise, die Marmelade auf dem Bauch, einem Bauch, den man sich vorstellen kann- leckt und saugt an den Fingern, blickt den ersten Jungen dabei herausvordernd, aber sehr ruhig, fast taxierend an. Der erste Junge gibt den Blick, an dem nichts zu beobachten ist, zurück, öffnet dabei wie unabsichtlich ein wenig den Mund. Beide Oberkörper wippen, schaukeln, vibrieren fast unmerklich, nähern sich einander an. (Sie küssen sich dann und so weiter.) Der Stream ist zuende. Plötzlich fangen beide an zu schrumpfen, werden ganz winzig klein, kleiner als Barbiepuppen. Ich weiß sofort, daß das ein Effekt der Marmelade sein muss, es gibt nichts umsonst, und schreie auf: ‘Ihr müsst von der anderen Marmelade essen, dann fangt ihr wieder an zu wachsen!! Schnell!’.
Ich will die Beiden schließlich weiter beobachten und das geht so schlecht bei dieser plötzlichen Winzigkeit. Ich rufe voller Inbrunst, doch natürlich ist nichts zu hören. Ich fühle mich plötzlich alt und allein. Dann ein Schuß.
Ich schrecke auf, aus dem Schlaf, es poltert und quietscht. Jemand versucht den Laden zu betreten, das ist nicht so einfach. Viele kommen gar nicht erst hinein. Die Tür klemmt wegen dem Kabel, das unter der Tür nach Draußen geführt wird, zur Leuchtröhre, die als Titel der Ausstellung fungiert. Als Titel, der Nachts die Marmeladen beleuchtet.
Die Tür öffnet sich schließlich, der Tresenjunge und ich starren die Frau an, die auf uns zukommt. Ein Overall in Tarnfarben, dazu rote, hochhackige Stiefel bis zum Knie, auf dem Kopf trägt sie eine Wollmütze in FairTrade. Mit knallenden Schritten geht sie durch den Raum zum Tresen, sagt: "Ein Inventar, bitte." Der Junge steht langsam auf, zieht sich die enge Jeans hoch, geht zum anderen Ende des Tresens, zapft ein Bier, wartet kurz, geht mit tänzelnden Schritten zurück und stellt das Glas auf einem Bierdeckel ab, Motiv Andy Warhol mit Edie Sedgewick. Dann blickt er die Frau mit halbgeöffneten Augen an und sagt langsam: ‘Macht 0,3 Euro’.
Die Frau holt ein rotes Lackportemonnaie aus dem Schaft ihres linken Stiefels und reicht ihm daraus einen Schein. Mit dem Schein zwischen Zeigefinger- und Daumen sagt der Junge: ‘Und Ausweis bitte.’ Die Frau sagt: ‘Wieso denn das.’ ‘Muss ich verlangen. Wenn Sie mehr als 50.000 Euro Vermögen haben, können Sie hier nicht einkaufen.’ ‘Das ist der beschissenste faschistoide, konservativste, blödeste, sexistischste, politisch falscheste Scheiß, den ich seit Langem gehört habe. Ich meine, ich komme hierher, um mal so zu schauen, was die Kollegen und Freunde so machen und tun und du verlangst meinen Ausweis. Wir kennen uns seit zehn Jahren!’. ‘Eben. Jetzt geht es nicht um Freundschaft, sondern um Ökonomie.’
‘Aber du kannst doch nicht dieselben repressiven Methoden wie der Staat anwenden, um zu zeigen, daß das beschissen abläuft.’ ‘Doch, ich will eben nicht deine freundliche Nische, es gibt keine Alternative. Ich glaube an den Staat. Man muss unbedingt Teil des Staates sein, um daheraus etwas zu verändern. Man hat doch ‘eh gar keine eigenen Mittel. Wenn man das glaubt, gibt man sich doch einer Illusion hin.’ Die Lady und der Junge starren sich an, als würden sie Armdrücken machen in einem Film Noir. Ich fühle mich plötzlich als Eindringling, Zeuge einer sehr privaten Situation, ein Streit mit Geschichte, der nichts zu tun hat mit einer Diskussion über ein Konzept, das ja nur einen Standpunkt behauptet und zur Disposition stellt, damit ein öffentlicher Streit stattfinden kann. Wenn es noch Öffentlichkeit gibt. In diesem ;oment, hier drinnen am Tresen, jedenfalls nicht.
Ich fühle mich versucht, verstohlen hinauszuhuschen, aber das geht mir gegen die Galle. Ich sage etwas unsicher zu der Frau: ‘Aber du hast ihn ja noch nichteinmal gefragt, warum er deinen Ausweis sehen will.’ ‘Ja, ja, warum denn nun!’. ‘Du könntest ja vorgeschickt sein, von Jemandem mit über 50.000 Euro Kapital, der hier nichts kaufen kann. Das ist doch nur ein symbolischer Widerstand. Ich will doch klarmachen, es gibt Punkte, da kann man nicht befreundet sein. Da muss man trennen.’ ‘Ja, und das hab ich jetzt verstanden, aber gut find ich das immer noch nicht.’
Geht ab.
In Frankreich sprechen viele Menschen Räubersprache. In den Banlieus ist das
ganz normal, das man rückwärts spricht, oder immer die Silben rumdreht in den Wörtern. Zum Beispiel 'meuf' für 'femme'.
Repräsentiert werden kann nur, was sichtbar ist. Was sichtbar ist, ist anwesend. Was nicht sichtbar ist, also das Abwesende, kann man nicht malen. Nicht sprechen.
(Die Frau als Abwesenheit vom Männlichen / transvestite feminine)
Nur selten haben Künstler versucht, etwas zu malen, was sie nicht sehen.
Also dauernd Frauen.
Einen abstrakten Begriff wie Abschaffung (Überwindung, Krieg-Erklärung, Es-geht-ums-bild) der Malerei kann man in der allegorischen Form einer sechzigerjahre-Tapete an der Wand darstellen, oder man kann wie die Surrealisten das Unbewusste malen. Indem sie das Unsichtbare Sichtbar gemacht haben, standen diese nicht nur im Dienst der Revolution, sondern ebenso im Dienst des Staates, weil sie dessen Forderung erfüllt haben, das geheime Seelenleben, auf daß es nicht gefährlich werden kann, sichtbar zu machen.
Die Quelle der Sehnsucht nach Sichtbarkeit ist der Wunsch nach Sicherheit.
Ich wünsche mir, daß du gleich HipHop auflegst, so Straß, schöne Hintern, Gold und Erfolg.
Guns don't kill people, rappers do.
In the land of the killers a sinners mind is a sanctum
I'm Itty Minchesta I'm rising high
Bring back god
Money rules everything around me
Will rap for food
Will blog for food
Ich will dich ficken
No more ancient fears now
Der Reim ist fett
Masturbation is not a crime
Überall stehen Schilder: hier sind Sie sicher, also klar fühl’ ich mich verdammt unsicher da.
Im Fernsehen neulich die letzen Bilder einer Frau, aufgenommen von der Überwachungskamera der U-bahn, kurz bevor sie vergewaltigt wird und stirbt.
Sie betrachtet sich in der Fensterscheibe, dreht sich tänzelnd um sich selbst, richtet sich die Haare, greift sich einmal an den Arsch, kneift sich prüfend rein und wirft sich dann eine Kusshand zu.
Ganz schön fies. Wie die Bilder vom Flugzeug, das immer wieder in den Turm reinfliegt.
Wir kommen hier ab, vom Pfad, glaub’ ich.
Nicht wirklich. Hinter dem Tresen sitzt eine Person mit mega Paranoia.
Vor dem Tresen Personen mit mega Paranoia.
Kann auch heißen, endlich mal zu sagen: Ich habe erkannt: Ich sitze im Knast.
Naja, also mal ganz ehrlich: wenn ich ein Schild lese, in einem kleinen gammel retro-chic Krämerladen, auf dem steht, ‘Leute, die über 50.000Euro Kapital haben, dürfen hier nicht einkaufen’, dann denk ich doch eher: ist der bekloppt, der Schildaufhänger, soll der doch mal lieber kaufen lassen und seinen Laden renovieren mit der Kohle.
Oder auch: hä, wieso zum Teufel sollte hier wer einkaufen, der Kohle hat. Hab’ ich was nicht mitgekriegt? Was gibts’ hier denn zu kaufen? Stapeln sich etwa die Limos vor der Tür? Denn das Verbot behauptet doch, daß es überhaupt eine Nachfrage gibt von Leuten, die über 50.000 Euro Kapital haben, das Inventar zu kaufen.
Ist doch absurd, jeder, der hier was macht, will doch sofort gekauft werden von Leuten mit über 50.000 Euro Kapital, weil die können sich das leisten und man will doch auch dazugehören, sich was leisten zu können.
Ich würde lieber mein eigenens Auto anzünden können.
Jetzt hör mal auf mit dem Auto Scheiß. Brennende Autos, Limousinen, Käfer, Fäkalsprache, Malerei, das sind so blöde Themen wie Saufen und Jungs.
Verkaufen sich aber gut.
In dem Moment, indem wir losmarschieren, überprüft uns das System, inwieweit wir selber das System sind. Also lieber gleich von vorneherein das System sein.
Der Staat sein. Ich glaube auch an den Staat.
Also ich kann mir eigentlich nicht leisten, hier was zu glauben.
Du, sag mal, wie lange willst du noch gefälschte Chanel-Shirts klauen gehen oder saufen mit Leuten, die nicht deine Freunde sind, sondern nur Konkurrenz, manchmal auch interessante, na klar, manchmal kaufen sie dich auch, oder was von dir, eine Herzmarmelade, in der Hoffnung, damit dann irgendwann 50.000 Euro erwirtschaftet zu haben, wenn du mal drei Stipendien bekommen hast.
Also ich kann mir eigentlich nicht leisten, hier was zu verkaufen.
Ich schon, ich fließe sowieso die ganze Zeit über vor Produkten, die ich für zwei Euro verkaufe, das sind dann die Materialkosten, die krieg ich wieder rein und außerdem kann sich keiner von meinen Freunden leisten, mehr dafür auszugeben, weil alles geht ja immer drauf für Bier, damit man diese ganze Scheiße aushält.
Wieder der, was? Genau der:
Keine Freunde. Keiner hilft Keinem.
Sehr geehrter Herr Pollesch,
bitte lassen Sie mich Ihr Henrico Franck sein.
Versteh ich nicht.
Das ist einfach eine Frage der Übersetzung. Die heißt: mach was Anderes gegen oder für Geld, dann kannst du hier Sachen völlig unter Preis verkaufen. Oder zu keinem Preis eigentlich.
Wie das eben bei Künstlern so ist, da verdient man das Geld hinter dem Rücken und holt es nicht nach vorne.
Na, daß man darüber spricht, das passiert ja wenigstens hier. Oder nicht?
Ist aber am falschen Ort, das muß doch in die Kunsthalle oder in den Hamburger Bahnhof, an die Leute adressierst du doch eigentlich. Mit mir hat das hier gar nichts zu tun. Ich hab auch keinen Bock mehr auf diese Mikroökonomieen meiner Selbstausbeutung, auch orange drübergepinselt ist das nicht verheißungsvoll.
Wenigstens ist hier keiner da, der dir vorschreibt, was du machen solltst, daß sich das verkauft.
Doch: das Netzwerk.
Ich mache mit, weil ich endlich einmal auch gefragt worden bin. Man muss doch Teil von einem Netzwerk sein. Sonst wird man ja nichts.
Genau: wenn ich es geschafft hab, dann geh ich nach New York und mache da Performance, aber so richtig!
Der Henrico Franck, das ist dieser arbeitslose Punker, der den Ministerpräsidenten Kurt Beck angemacht hat und sich dann waschen und rasieren sollte. Der macht jetzt in I-Pod.
Also der Pollesch, künstlerischer Leiter des Praters an der Volksbühne Berlin, behauptet, daß er jemandem einen Job am Theater geben würde, weil der den Job braucht, also Geld braucht. Nur Geld. Und daß das aber keiner machen will, weil alle wollen sich künstlerisch verwirklichen, ihre Persönlichkeit, ihr Talent und sind dann lieber arbeitslos. Es geht eben gar nicht ums Geld, deswegen unterbieten sich ja hier auch alle.
Ja, aber genau das wollte der Franck ja eben nicht, ok, Iro behalten, ja- aber Kunst? Malerei vielleicht, haha.
Der wollte einfach einen Job, kein Ego.
Das ist doch ein Unterschied. Pollesch fragt eben wegen der Abschaffung des Egos, ich mein, an jedem von diesen Mützen hier klebt ein verschiedenfarbiger Punkt, das ist die Kennzeichnung für die Preisliste und den Namen. Der soll ja da sein. Da steht ja nicht: Anonym. Kostet 30 Euro. Das kauft doch keiner.
I need 10.000 hits like this to make me rich, bitch.
Pro Wort sollte ich 30 Euro nehmen.
Hier verkaufen ja auch keine Leute mit tollem Namen was, oder siehst du hier einen Richter oder Meese?
Aber sieht doch so aus hier. Wie ein Meeseraum, ein Richterraum.
Das ist ja auch nur ein symbolischer Widerstand hier. Eine Satire.
Aber doch aus echtem Fleisch und Blut. Echte Statisten. Das geht doch nicht. Der Schlingensief, der bezahlt doch wenigstens seine Behinderten-Truppe, nehme ich an.
Nimmst du an.
Dann geh doch und mal was, das verkauft sich.
Malerei gibt es nicht mehr.
Literatur auch nicht.
Theater auch nicht.
Einzelhandel geht immer.

Ende

aus dem abgeschlossenen angrenzenden Raum:
Geheule:
society is a hole it makes me lie to my friends
bei euch:
Sprechgesang:
Late at night cloudy light will creep over my old house
And the chair, where I once sat, someone new is there,
and he'll stare at that wall, and we're all
Parts of an alphabet
Spell new words in new spots we're at
And the big blue brown boat drifts around in the dark
When you feel like a jerk does it make you confused?
Like how could you become as awesome as you are
and still feel like a loser?
When you feel ugly and petty
Awkward and unsteady
Just try not to forget there's so many people who've liked you
I hope that the art school enjoys your big drawing of Rouen
We've all got good things to do and it's good when we do them
From Hamburg to Brooklyn
They're all smart and good lookin'
We're all parts of an alphabet
Spell new words with new folks we met
And the big blue brown boat drifts around in the dark
And the big blue brown boat drifts around in the dark
And they say that we'll drift for a while
till we die and the sun it's a spiral it's a combination lock
And I'm just hoping that I'll get it all in
and that these joys and frustrations are just turns in the combination
(Jeffrey Lewis)

*unlimited liability (»uneingeschränkte Haftpflicht«) ist eine Erweiterung der »target: autonopop« Ausstellungs-, Workshop-, Konzert-, Diskussionsserie. Diesmal wurde etwas Neues ausprobiert: der Verkauf von Künstler-Multiples für weniger als 30 EUR: fast keine Einschränkung bezüglich der Form – Stickers, DVDs, CDs, Dienstleistungen, Fotos, Poster, Zines, Shirts, Buttons, Essen, Getränke... nur Zeichnung und Malerei sind ausgeschlossen.
Was das Projekt von anderen Multiple-Shops und "bezahlbare-Kunst-Messen" unterscheidet, ist der Versuch das Kunstdemokratisierungsprojekt in bisher unerforschte Gefilde zu führen. Der DIY Ansatz von alternativer Produktion/Distribution wird durch eine Brandschutzwand gegen Kooptation geschützt. Dieses geschieht durch einen juristisch geprüften Vertrag, in dem zur Auflage gemacht wird, dass ein Käufer nicht mehr 50.000 EUR Aktivkapital haben darf. Zuwiderhandlungen
können strafrechtlich belangt werden.
Es geht darum, das vom Kunstmarkt bestimmte Verhältnis von tatsächlichen Käufern und symbolischen Adressaten zu invertieren: Diejenigen, die bei unlimited liability einkaufen können, sind genau die sozialen Gruppen, die üblicherweise vom Kauf ausgeschlossen (, weil finanziell überfordert) sind.
Diese "Gechäftsordnung" wird neben den zum Verkauf stehenden Arbeiten ausgestellt. Publikumsreaktionen werden ausgewertet und in das Projekt integriert. Die eingeladenen KünstlerInnen/Kollektive erhalten 100% des Verkaufspreises und der Vertrag wird frei verfügbar zur Anwendung in anderen Kontexten.
unlimited liability findet im Münzviertel, in unmittelbarer Nähe zu kulturellen Institutionen wie den Deichtorhallen und dem Kunstverein statt. Das Münzviertel wird von eher einkommensschwachen Bevölkerungsteilen bewohnt: dank einer Zwischennutzungsregelung nistet sich unlimited liability im Souterrain der SAGA gegenüber von einem großen Sozialwohnungsbaukomplex einschließlich mehrerer soziale Dienstleistungseinrichtunen für Wohnungslose und psychisch kranke Menschen ein. Eine Kooperation mit einer Jugendwerkstatt für sozial verdrängte und schwer vermittelbare Jugendliche ist in Vorbereitung.
(vgl. Selbstbeschreibung ‘unlimited liability’, http://www.targetautonopop.org/)