22.12.09

Gespräch

In einem Erker, der zu einem Restaurantzimmer gehört. Durch die weiten Fenster sieht man einen See und Wälder um seine Ufer. An einem Tisch, dicht an den Scheiben, sitze ich. Ich lausche. Ich beobachte, ich bin viel allein. Manchmal bin ich auch einsam. Ich lausche den Gesprächen anderer. Manchmal sind sie auch nicht zu überhören. In der U-Bahn telefonieren junge Mädchen aufgeregt mit ihren Freundinnen, denn die Freunde der Mädchen sind ausnahmslos Arschlöcher.
Die U-Bahn ist ein neutraler Raum, dem Wartezimmer von Tierärzten entsprechend, in dem Hunde und Katzen einen Waffenstillstand halten, der ausschließlich auf Angst beruht. Sie sitzen da, riechen streng und wagen keinen Laut.
Hier am See ist es tatsächlich ruhig. Schneidend kalte, klare Luft. Schon schmerzen mir Lungen und Zehen. Ich mache nur einen kleinen Gang den See entlang. Zu DDR-Zeiten war die Lagunenlandschaft ein Naherholungsgebiet für Funktionäre.



Gert: Da setzen sich wirklich schon welche draussen hin.
Thom: Ja, wirklich. Ein bissel gewagt, nicht?
Gert: Das schon; aber nun werden sie nach Hause gehen und werden sagen: nun ist es aber wirklich Frühling; wir haben schon draussen gesessen.
Thom: Und das ist dann, als ob sie sagten: es ist uns allen etwas sehr Freundliches geschehen. Da hast du recht. Und schliesslich ist es das doch auch. Wenn ich eine Novelle schreiben würde, die heute begönne, würde ich auch so anfangen: An einem nachmittag mitten im hellen Frühling.
Gert: Eigentlich ist es ja mehr Balladenwetter, weißt du. Alles kühl und straff und blau und gold; aber wie würdest du weiterschreiben?
Thom: Das ist eben die Frage. Sieh mal, was jetzt draussen geschieht, das ist doch einfach das, dass es Abend wird, nicht wahr? Wenn du das sagst, weiß jeder, was gemeint ist. Wie würdest du das nun aber ausdrücken, wenn du es gewissermassen künstlerisch ausdrücken würdest? Neu? Eigentümlich?
Gert: Aber da kann ich dir jetzt wirklich keine Antwort geben.
Thom: Überlege es dir doch bitte mal. Siehst du es denn nicht auf irgendeine besondere Weise?
Gert: Ich glaube nicht. Aber vielleicht - warte mal – so:
Es ward Abend, große graue Vögel kamen aus den Wäldern und flogen über den See und über das Land; und auf allem, das sie überflogen hatten, blieb ein Schatten zurück. Weißt du, ich würde es vielleicht so malen können: große Vögel reiherähnlich, rauchgrau an Brust und Hals, brechen aus einem Gehölz; auf ihren Flügeln müsste etwas liegen von dem Schatten der Wälder, die sie durchflogen haben, und das gleitet nun gewissermassen herab; das müßte man eben darstellen, so das Sinkende, Niederrieselnde von ihren Flügeln, daß man es glaubte, wenn hinter ihnen alles Land in Schatten läge. Nun, und du?
Thom: Ich würde wohl einfach sagen müssen, was geschieht: Die Wälder wurden uns ferner; von Nebeln eine dünne Haut legte sich über den See; das Licht wurde zarter und durchsichtiger und nahm an Fülle ab.

Ich lese. Du sagst, du liest nicht, es macht dir ein schlechtes Gewissen, als sei es vertane Zeit. Ich lese, um wirklich zu werden. Es ist viel Abstand da zu den anderen.

Thom: Da sitzt er nun, der ausgezogen war, um ein großer Künstler zu werden, der seine Seele hatte durchrütteln lassen von allen Sensationen moderner Kultur und Wissenschaft, da sitzt er nun und fühlt mit Behagen in seinen Muskeln und Gelenken die Müdigkeit, die aus körperlicher Arbeit kommt, die man jedoch auch durch Alkoholmissbrauch erreichen kann und starrt wie mit ausgelöschten Hirnfunktionen auf die rhythmisch wogenden Kornfelder. Für ihn gibt es nichts Zuständliches; er sieht alles kommen von weither und seinen Weg gehen und über einen Moment dieses Weges sagt er schnell ein Wort. Und wenn er zwei Menschen zusammenführt in seinen Büchern, so gehen sie wohl eine Strecke zusammen und leben ein Stück Leben zusammen, aber bald gehen sie auseinander und nehmen kaum Abschied.
Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem Gefühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen, er weiß, daß es dieselben Flüsse nicht mehr sind, auch wenn wir in dieselben Flüsse steigen. Er schreibt: ' Ich habe nie etwas Abgeschlossenes in einem Verhältnis zwischen Menschen gesehen. Wenn sie auch sieben mal siebenundsiebzig mal abschließen, so fährt es doch fort weiterzuleben und kann kommen und verlangen, noch einmal abgeschlossen zu werden.'

In einem 'Sozialen Buchladen', in dem sich die Ein-Euro-Jobber sich hauptsächlich daran machen, die große Unordnung im Laden, die „im 'Einzelhandel' ganz unvorstellbar wäre“, möglichst effektiv zu beseitigen, was zur Folge hat, daß sämtliche Bücher in zwei Reihen fest hintereinander geklemmt und somit nur unter großen Anstrengungen einsehbar sind, entdecke ich ziemlich schnell ob seines leuchtend gelben Umschlags den MÄRZ-Band 'Die Reise' von Bernward Vesper.
Auf dem Cover ist nicht, wie ich auf den ersten Blick annehme, die Verladerampe von Auschwitz-Birkenau zu sehen, sondern ein Bahnhof auf dem deutschen Land, in der Nähe von Hamburg, mit dem Namen 'Triangel'. 'Triangel','Tötensen','Herzsprung', 'Wüstenjerichow' und 'Waldfrieden'. Deutsche Ortssschilder.

Das Schild steht nicht mehr da. Die Uhr zeigt eine andere Zeit an. Geblieben sind die Schienen, die in der Ferne aufeinander zu laufen. Erst wenn man mitten auf dem Bahnsteig steht, sieht man den Namen des Bahnhofes. Auf einem neuen Schild, seitlich aufgestellt, das glänzt wie frisch poliert: "Triangel" steht da.
Tausende erst, später Zehntausende haben diesen Namen eines Bahnhofs gelesen, haben auf die Uhr geschaut, die immer sieben Minuten vor Eins anzeigte. Darüber zog ein grell gelber Himmel auf, von fast giftiger Färbung. Das alles zusammen ergab das Umschlagfoto für einen der vielleicht wichtigsten Berichte über die Achtundsechziger: den Roman "Die Reise" von Bernward Vesper, ein Protokoll ihrer Herkunft aus den dumpfen Fünfziger Jahren, eine Ableitung ihres Handelns als Söhne und Töchter der Nazigeneration; gedacht als Dissertationsschrift und erstmalig aufgelegt im Juli 1977.



Die Gußeiserne Inschrift 'Arbeit macht frei', die vom Torbogen des Eingangs des Stammlagers Auschwitz I gestohlen wurde, ist wieder aufgefunden worden. Hintergrund der Tat sei ein wirtschaftlicher.
(Der originale Schriftzug wurde in den frühen Morgenstunden des 18. Dezember 2009 gestohlen. Noch am selben Morgen wurde er durch eine Kopie ersetzt, die bereits für den Einsatz während Restaurierungsarbeiten angefertigt worden war.)
Was macht man mit so einer Schrift, gußeisern, schwerwiegend - 'Arbeit macht frei'? Stellt man sie im Vorgarten auf, hat man ein Privatmuseum im Keller, Ausschwitzschrift und Brekeradler und den passenden Panzer in der Garage, oder schmilzt man das ein, das Metall?
(Der Nachbar deiner Eltern hat so einen Panzer im Keller, den er einmal im Jahr durch den reichen Vorort der Hafenstadt manövriert. Im Garten hält er in einer Hundehütte zwei scharfe Rottweiler, die den gußeisernen Adler im Garten bewachen, der Nacht für Nacht ab und zu von den Scheinwerfern der Bewegungsmelder angestrahlt wird.)
Von anderer Haltung geprägt, also völlig andere Handlung, aber auffallend nüchtern, pragmatisch, auch der Vorgang, die gestohlene, also fehlende, Eingangstorschrift sogleich durch eine Reproduktion zu ersetzen. Als dürfe das ikonische Bild des Tores mit der Schrift auf keinen Fall zerstört werden durch diese fehlende Schrift. Als könne man ohne 'vollständiges' Bild über den Vorgang des Diebstahles medial nicht berichten.

Die Aussage „Arbeit macht frei“ wird gelegentlich ohne historischen Kontext verwendet. Mangelnde Kenntnis über diesen führt regelmäßig zu einem Eklat. Strafrechtliche Konsequenzen sind für ein Versehen nicht zu befürchten. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Fehltritt ist eine Äußerung der Moderatorin Juliane Ziegler im Januar 2008.
Juliane Ziegler ist in Berlin aufgewachsen. Nach ihrem Realschulabschluss absolvierte sie eine Ausbildung zur Schornsteinfegerin. Nach bestandener Gesellenprüfung entschied sie sich für eine Karriere beim Fernsehen. 2003 war sie von einer Freundin zum Casting für die RTL-Show Der Bachelor angemeldet worden.
Seit November 2008 ist Juliane Ziegler als Moderatorin und Reporterin für center.tv Heimatfernsehen Ruhr tätig. Dort führt sie u.a. durch das Reportageformat center.tv mobil vor Ort, die Kochshow Im Henkelmann serviert oder die Nachrichtensendung Heimat Kompakt. Für das ProSieben-Wissensmagazin Galileo ist sie seit Mai 2009 als On-Air-Reporterin im Einsatz, v.a. für Experimente in der Rubrik Galileo eXtrem.

08.10.09

Vorwerkstift ist neubesetzt (6)

hallo liebe vorwerker,

ich studiere grad im letzten semester an der hfbk und such seit längerem eine bezahlbare wohnung, hab mich letzten sommer auch bei euch beworben, allerdings meine mappe von der stiftung zurückgeschickt bekommen

kenn euer haus und einige bewohner seit längerer zeit und würde natürlich auch gerne mithelfen die situation des vorwerks zu ändern

wenn ich nicht zu spät schreibe freu ich mich über eure antwort!
bis bald,
p


Klingt interessant, auch wenn ich die Bedingungen etwas verwirrend finde...
Jedenfalls bedeutet interesse, weiteres Informieren/informiert werden?
Lieber Gruß
r

Hallo!
C aka B hat da Interesse und würde gerne sobald wie möglich
vorbeikommen um alles zu besprechen!
Ich bin aus dem Frappant-Vorstand und mache experimentelles Modedesign /
Textilinstallationen
Besten Gruß


Hallo,
aus gegebenen Anlass suchen JG und IB dringend eine kleine Wohnung - und der Vorwerkstift wäre für uns ein Traum. Wir verfolgen seit geraumer Zeit was bei Euch passiert und kämpfen gerne mit.

Wir sind ein Künstlerpaar welches sich mit eigener Galerie in Hamburg City Nord seit 6 Jahren selbständig gemacht hat. Bis Mai 09 hatten wir ein Wohnatelier und Bildhauer- Maleratelier mit showroom auf der ebene+ 14. Als dort die Dänen alles aufkauften waren wir fast die Einzigen die sich noch eine Weile gewehrt haben bis wir nun ziemlich verschuldet zum Glück neue Räume gefunden haben - für Bildhauerwerkstatt und Galerie - wir bauen das auch gerade aus - seit 5 Monaten - denn Prof. Dr. Greve hat uns Räume ohne Strom etc. vermietet. Zum Glück haben wir Sponsoren gefunden die uns mit Baumaterial versorgen. Es wäre toll wenn wir eine legale Wohnung anmieten könnten - und wie gesagt in solchen Zusammenhängen nur zu gerne.

Hier der link auf unsere website:
Viele Grüße
IB
JG

einen schönen guten tag
mein name ist jh und teil der musikgruppe 10mechaniker.
ich bin 19 jahre jung und arbeite zur zeit nebenbei als zivildienstleistender in altona bei barner 16. ( station 17 )
ich sucher dringend eine unterkunft und finde euer angebot höchst ansprechend.
also meldet euch doch mal.

lieben gruß
J

Hi,
Just touching base with you because I am quite eager to contribute to Vowerkstift in any way possible, i.e. Politically and Artistically. I don't know if you know SF, but she is a curator and part of a theater/arts/installation group in Hamburg called CHANCES. They had a huge installation/stage at Dockville Festival called The Tower, I was involved with. She is a good friend and knows a lot of people that stay at Vowerkstift. She also just informed me about the vacancy you have on 1/11. I am in the middle of building a website for my Dance Performance/Music pieces which should be done this week but right now I will show you some paint/print/photography work I am doing and currently showing in New York and Berlin. I also do collage that is in development for the website right now. Some friends in Hamburg are also telling me about the current situation with Vowerkstift and I am more than happy to help and demonstrate politically in anyway possible. This establishment means a lot to me and other people I know who have lived in Hamburg all thier lives.

Here are some links of my work to check out in the meantime before I launch my website.. Of Course you will have my CV and further information from the Website once it is launched. But for now I will send you some current links as I am already eager to show you work as urgently as possible, especially since Vowerkstift is in a volatile situation at the moment.


SAJ, Isländer und zur Zeit als Performer in einer
Produktion auf Kampnagel tätig, sucht dringend ein Zimmer von Oktober
bis Dezember in Hamburg. Wer kann helfen?

Lieber Gruss
Jenny


Hallo,
meine Name ist A und ich suche grade ein Zimmer zum Wohnen.
Ich studiere in Hamburg Performance und wäre ganz glücklich über ein
Atelier
dass ich mitnutzen kann, da ich mir finanziell grade keines leisten kann.
Ich arbeite mit verschiedenen Medien, je nach Performance, Tanz und
Bewegungsmaterial.

Ich fände es gerade aufgrund der politischen Lage im Vorwerkstift gut
einzuziehen. Ich plane gerade eine performative Intervention in der
Hafencity und mit politisch motivierten Leute zu wohnen und Dinge zu
organisieren-fänd ich super und ich unterstell mir das mal
marktpreisserisch- bin ich auch ganz gut drin.

Muss man hierfür eine offizielle Bewerbung schicken und wenn ja an wen?
E hat mir nur so eine etwas kryptische Mail weitergeleitet.

Könnte man sich das Zimmer mal anschauen kommen? Ich bin ab Montag nächste
Woche wieder in Hamburg.

schöne Grüße
A

Ahoi Haus,
B hat versucht eine Mail an uns zu schichken aber kam immer fehlermeldund zurück..

Wie T schon meinte, sie ist gut drauf und hat 'ne Menge in Frappant schon gemacht (Vorstand, Satzung usw.).

Sie wäre meine Wahl auf jeden fall für die Wohnung!


Hallo,
mein Name ist AS. Ich bin der Sänger und Gitarrist der band 10Mechaniker und bräuchte die Zimmer dringend, um in der Stadt künstlerisch aktiv zu bleiben.

Bis dann
A. S.

03.10.09

Postcards from the near Future Pt.III aka Vorwerkstift ist neubesetzt (3)

Wenn wir Kunst als eine spezifische Erkenntnis und Teilnahme am universellen Prozess der Schöpfung betrachten, so können sich KünstlerInnen nicht allein über die Anwendung eines bestimmten Mediums oder einer bestimmten Ausdrucksform definieren, sondern sie befinden sich (dank ihrer künstlerischen Aktivität) in einer sich ständig wandelnden Berührung mit und Intervention in die Bedürfnisse von Zeit und Ort.

(Vorausgehende Vermutung der Vorwerk-Stift Konzeption)

Die Intervention in die Bedürfnisse von Zeit und Ort als Schöpfungsgeschichte bedeutet Vorwerkstift ist neubesetzt.

01.10.09

Postcards from the near Future Pt.III aka Vorwerkstift ist neubesetzt (2)

Postcards from the near Future Pt.III aka Vorwerkstift ist neubesetzt

2

Manchmal dachte Jack Constant, Mitarbeiter der Informationssammelstelle, dass ihn nur die französischen Zeitungen, die er mit zur Arbeit nahm, vor dem Verücktwerden bewahrten. Dabei hatte Constant geglaubt, die Tiefen der Langeweile und Sinnlosigkeit bereits während seiner einjährigen Dienstzeit als Angestellter der Steuereintreibungsbehörde Ihrer Majestät ergründet zu haben.

Sie hatte das Jahr damit verbracht, Kaffee zu kochen, beim Nichtstun geschäftig zu wirken, sich von den jeweiligen Vorgesetzten entweder mit Vertraulichkeiten oder mit Unnhöflichkeiten belästigen zu lassen und sich darin zu üben, gleichmütig zu erscheinen.
Ihre jetzige Arbeit im Blumenladen übertraf jedoch das zuvor Erlebte bei Weitem.
Von Langeweile keine Spur, dafür zwölf Stunden lang von Allem im Überfluß.
Zuviele Menschen, zuviel Kleingeld, Großgeld , Großkotzigkeit, zuviele Gören, Gerbera, geregelte Arbeitszeiten, gelangweilte Hausfrauen, dumpfe Rentner und zuviele Reiche auf Schnaps, auf Gucci, auf IvesSaintLaurent und FakeChanel, zuviel MakeUp, Blumenduft und Zugluft, zuviele Bushaltestellenwartezeitverkürzer und Zweitelebensphaseendverbrauchgenießer, zuviele Ducker, Kriecher, Beißer, Stengelabkneifer, zuviel Einsamkeit, Unhöflichkeit, Zeitvertreib und Straßenlärm.
Ab und zu wickelte sie ein paar von den Blumen in den Feuilleton-Teil von Le Monde ein, aus reiner Höflichkeit, damit die zarten Blüten der Amaryllis, der Lilien, der roten, neongelben und weißen Rosen, der Chrysantemen und Sonnenblumen nicht unter dem Klima litten. Zum Lesen kam sie sowieso nicht und das Papier ärgerte die Kunden, ohne unverschämt zu wirken.

Mehr als drei Milliarden Euro werden in Deutschland jährlich für Schnittblumen ausgegeben. Damit haben wir den höchsten Schnittblumenverbrauch in Europa. Doch nur zwölf Prozent der hier angebotenen Schnittblumen stammen aus heimischem Anbau. Jede dritte Schnittblume auf dem Weltmarkt wird in Äquatornähe angebaut. Für die in der Blumenproduktion arbeitenden Menschen sind die Produktionsbedingungen oft untragbar, der hohe Einsatz von Pestiziden gefährdet Gesundheit und ökologisches Gleichgewicht, geringe Löhne stellen die Arbeiterinnen vor ein soziales Dilemma.

30.09.09

Postcards from the near Future Pt.III aka Vorwerkstift ist neubesetzt (1)

Postcards from the near Future Pt.III aka Vorwerkstift ist neubesetzt

1

Liebes Haus,
von 18 Leuten schweigen 15. Auf meine Frage, wie man hier so wohnen könne, so schweigend, ohne Äußerung, meinte Y., der eben zur Tür hinaus ist, um seinen Koffer zu packen für New York, das komme vielleicht daher, daß für diese Mehrheit die Vorgänge im Haus nichts mit ihrem Leben zu tun haben.
Bestandsaufnahme Schreibtisch-Oberfläche:
Darauf befinden sich im Moment folgende Dinge:
-mein Laptop: weiß, Apple MacBook ohne Aufkleber,
-meine Hände, meine Arme,
-ein Bescheid vom Finanzamt, Zuteilung meiner Steuernummer,
-Mahnung vom Finanzamt, Steuererkärung bis zum 10.10. zu verfassen,
-eine Mini-Dvd vom letzten ATC-Auftritt in der Gartenkunst, unbesehen
(Donnerstag Abend hat die Kommission für Bodenordnung beschlossen, die nach dem Willen der Finanzbehörde zu veräußernden Flurstücke in der Eifflerstraße der STEG gegen Entgelt anhand zu geben, sprich zu verkaufen. Diese „soll“ (laut STEG) „unbedingt“ (laut GAL) das Gartenkunstnetz am Ort erhalten. Laut GAL ist dieses „unbedingt“ bindend für Finanzbehörde und STEG. Wenn das so stimmt, haben wir den Kampf gewonnen. Allerdings mit dem Wermuthstropfen (?), daß trotzdem verkauft wird und daß wir den Platz umbauen müssen und daß trotzdem der Rest Richtung Schulterblatt 4-stöckig bebaut wird. Aber die Pappeln scheinen wohl gerettet und so alles Weitere glatt ausgeht, kann das Gartenkunstnetz in der Eifflerstraße bleiben.)
-dickes Buch, MÄRZ Mammut, (‚was den MÄRZ Verlag im Gegensatz zu anderen, jüngeren, z.T. sogenannten ‚linken‘ Verlagen ausgezeichnet hat, war die Originalität, der künstlerische Instinkt und ganz und gar undogmatische Geist. Der März verlag ist der kulturrevolutionäre Verlag gewesen, weswegen ihn gewisse orthodoxe und bornierte Leute, deren Wahrnehmungsvermögen wie das von Blockwarten oder Stromablesern funktioniert, auch nie mochten.(…) Es ist deprimierend, daß ein Unternehmen wie dieses so früh an seinem Ende ist, während uns andere mit ihren seriösen oder nur noch trivialen Belanglosigkeiten noch weitere Jahrzehnte elenden werden.‘ Auszug aus dem Vorwort des im März 1984 herausgebrachten MÄRZ Mammut- einen Nachruf von K-H Bohrer in einer FAZ von 1972 zitierend, der sich auf den damals angenommen, tatsächlich später aber nicht stattgefunden habenden baldigen Konkurs des März Verlags bezieht.) Gestern auf dem Flohmarkt in Eimsbüttel von Michael ‚Geisterfahrer‘ Ruff, Inhaber des Plattenladens Ruff Trade im Karoviertel, gekauft, der mich leider nicht einstellen kann, da sein Laden kaum genug Geld für die Miete abwirft. In Eimsbüttel wählten 36% Grün aufgrund eines Skandals innerhalb der SPD. Ich war nicht wählen und ärgere mich heute. Ich war zu müde und wollte etwas Schönes machen.
-die Broschüre A DECADE OF CALIFORNIA COLOR PACE NEW YORK, die ich lesen und auf Verständlichkeit prüfen kann, wenn ich mag, fragen A und Z an. Der eine ein ehemaliger Mitbewohner, herausgeklagt von Stiftung Freiraum, der andere ein gewünschter Mitbewohner, der aufgrund der Differenzen mit Freiraum beschloss, nicht einzuziehen und schon gar nicht in die Wohnung von Z, aus der dieser unmittelbar vorher ausziehen musste.
-ein orangefarbener Schnellhefter, zerbeult, gehörte A., die vor kurzen aus dem Haus auszog nach Berlin mit Mann und Kind. Ich habe den Ordner mit DAF beschriftet, Abkürzung für Deutsch als Fremdsprache. Ich habe mich zum Fernstudium angemeldet. Der Ordner enthält nur den Willkommensbrief mit der Bankverbindung der Universität Kassel.
-mein Handy
-ein länglicher weißer Briefumschlag, beschriftet mit Edding ‚Vorwerk Stift‘, enthielt 75 Euro, von denen ich 40 bereits wieder entnommen habe, um meine ausgelegten Unkosten zu begleichen. Den Umschlag habe ich Donnerstag abend im Pudelklub bekommen, weil ich Marcelle, eine befreundete DJane aus Amsterdam in der geräumten Ex-wohnung von T., der ebenfalls aus dem Haus herausgeklagt wurde, für zwei Nächte untergebracht habe. Das Hotel, in dem der Pudelklub sonst seine Gäste einmietet, war aufgrund einer Großveranstaltung ausgebucht. Ein Booker vom Pudel beschloss, daß der Vorwerkstift das Geld auch gut gebrauchen könne.
Die Tür der leergeklagten Wohnung wurde von der Hausgemeinschaft, den temporären Elfen, entfernt, eben um Gästen die Übernachtung zu ermöglichen, da das Haus trotz seiner Größe kein reguläres Gästezimmer für kurzfristige Gäste besitzt. Die Tür wurde heute von O, dem Hausmeister und Mitglied der Stiftung Freiraum, wieder eingesetzt und das Schloss ausgetauscht.
-ein falsches, silbernes Gebiss in einer durchsichtige Plastikkugel aus dem Kaugummiautomaten, das mir Digger Barnes geschenkt hat und für das ich mich noch nicht bedankt habe.
All diese Vorgänge haben etwas mit meinem Leben zu tun und ich habe nur das eine. Eine Verknüpfung von Kontexten, Handlungen und Erleben, alles in Gleichzeitigkeiten

21.09.09

Postcards from the near Future Pt.I aka 'Nur die Hälfte des Gehirnes ist betroffen'














POSTCARDS FROM THE NEAR FUTURE PT.II
oder
‚Nur die Hälfte des Gehirnes ist betroffen’

In einigen Erzählsträngen der Schottisch-Gälischen Tradition befand sich der Garten in Barvas Moor auf der Insel Lewis in den Äußeren Hebriden. Seitdem hat sich durch Klimawandel die Topographie und das vorherrschende Wetter stark verändert.

Jackson County war die Heimat des Stammes der Osage Indianer. Die ersten europäischen Erforscher waren französische Trapper, die den Fluss Missouri nutzen, um das Gebiet weiter zu erforschen und mit den Eingeborenen zu handeln. Jackson County war ein Teil Neufrankreichs, bis der Sieg der Briten im Französchisch-Indianischem Krieg in einer Übergabe des Gebietes an die mit Großbritannien verbündeten Spanier resultierte. 1800 ging das Gebiet wieder an Frankreich zurück und wurde 1803 Teil der Vereinigten Staaten. Jackson County spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzen Tage. Der Kirchengründer Joseph Smith Jr. lehrte, dass sich der Garten Eden im Heutigen Jackson County befand und dass dort das Neue Jerusalem, von dem im Buch der Offenbarung die Rede ist, gebaut werden würde. In den 20er und 30er Jahren dieses Jahrhunderts wurde die Stadt zu einem bekannten Zentrum von Jazz und Blues. Ferner befand sich dort der Hauptsitz von Hallmark Karten sowie Walt Disneys erstes Animationsstudio.

Nachdem ein Teil der Inseln über mehrere Jahrhunderte kontinuierlich bewohnt war, setzte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Niedergang ein. Die Lebensbedingungen auf den Inseln wurden seit langem nicht mehr als menschenwürdig und zivilisationsgerecht betrachtet. Zudem führten rückläufige Fangquoten der Fischer und die Abwanderung der jüngeren Leute dazu, dass die letzten 22 Einwohner 1953 auf das Festland evakuiert wurden. Weitere Inseln wurden bereits vorher leergezogen. Die Lebensweise auf den Inseln gilt bis heute als sehr archaisch, da sie größtenteils auf dem Tauschhandel beruhte und die Lebensbedingungen vergleichsweise einfach, wenn nicht primitiv waren. Diese Verhältnisse rückten die Inseln und ihre Bewohner seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder in das Blickfeld von Anthropologen, Soziologen und Sprachwissenschaftlern. Angeregt durch die dabei zustande gekommenen Kontakte verfassten einige Inselbewohner authentische Beschreibungen ihres Lebens. Die Lektüre dieser Bücher beweist jedoch, dass die Einwohner der Inseln längst nicht so strikt vom Rest der Welt abgeschnitten waren, wie es immer wieder behauptet wird. Sie besaßen enge kommerzielle und kulturelle Kontakte mit verschiedenen Orten der Großen Halbinsel, aber in späterer Zeit auch mit Besatzungen von Trawlern internationaler Herkunft. Insofern ist es auch eine Legende, dass die Bewohner Geld weder kannten noch besaßen. Zumindest die männliche Bevölkerung war regional mobil und daher in anderen Orten auf Geld angewiesen. In den 1980er Jahren waren die verlassenen Häuser von einer Gruppe Aussteiger aus Deutschland bewohnt, die dort vom Fischfang und der Kaninchenjagd lebten. Die einzige Verbindung zum Festland war ein kleines Schlauchboot. In dieser Zeit wurde auf der Insel wilde Schafzucht betrieben.

Tag 5

Es hat die ganze Nacht und den ganzen Morgen geregnet. Nun ist es im Garten schwül und heiß und die Luft drückend, ja erstickend.
Es muss lange Passagen und Beschreibungen von (geistiger) Leere, grausamer Langeweile und Einsamkeit geben im Tagebuch des Robinson- an die ich mich jedoch nicht erinnern kann. Der Kampf ums Überleben war spannender. Sowieso habe ich viele Passagen immer übersprungen, öde, detailversessene Beschreibungen, die den phantastischen Landschaftschilderungen Karl Mays entsprechen. Zweiundvierzig Tage baut Robinson an einem Floß oder Bett oder was weiß ich, muss erstmal lernen, einen Baum so zu fällen, dass der nicht auf ihn draufkippt und ihn erschlägt, obwohl er sich das auch wünscht von Zeit zu Zeit, aber meistens ist er doch Gott dankbar, dass er da sitzen darf auf seiner Insel und etwas lernt und wenn es das Brotmachen ist, was mich an den Medienprofessor erinnert, der so gerne Brötchenausfahrer werden möchte in einem zweiten Leben, was natürlich eine romantische Vorstellung ist - es hindert ihn ja auch niemand in diesem Leben daran. Aber hat Angst - er wäre zu umständlich in dem Job, würde die Leute volllabern an den falschen Stellen und zu spät kommen und ihnen Sachen empfehlen, die sie nicht wollen und über die Bedingungen des Brötchenmachens sprechen wollen und nicht über Benzinpreise oder wie groß das Kind von soundso geworden ist.

Tag 19

Lieber Professor,
ich vermisse dich sehr und denke oft an dich. Besonders wegen dem Turmbau, den ich erneut angefangen habe und der Robinson in den sicheren Tod getrieben hätte, wenn es das einzige gewesen wäre, was ihm einfällt, da auf seiner Insel. mir ist es ja auch fast peinlich, das kann man eigentlich niemandem erzählen, dass das einzige, was man in ziemlicher langer Zeit zustande gebracht hat, ist, sich noch weiter zu isolieren und an einem riesigen Ding rumzubauen, von dem man aus Erfahrung weiß, daß man an ihm scheitern wird. Aber der Mann auf der Betoninsel, der lebte ja auch erstmal einen Monat lang aus einem Bohémereflex von dem Rotwein, den er noch im Kofferraum hatte und danach erst von dem Müll, den andere aus dem Fenster schmeissen, bevor er dann endlich angefangen hat, sich selbst aufzuessen. Irgendwas frisst einen immer an. Ich habe im garten Tomaten ausgesät, alllerdings werden sie das Klima wohl schwer überleben, sie brauchen mehr Sonne. Vielleicht fressen auch die Schnecken, von denen es hier unzählige gibt, die Pflanzen auf. Ich werde also versuchen, ihnen ein Schneckenparadies zu bauen, eine 'gated community' sozusagen, in der sie sich gerne aufhalten und aus der sie nicht rauswollen, damit sie den Garten und die Tomaten in Ruhe lassen.

Tag 23

Gerade das Tagwerk betrachtet- einige gravierende optische Fehler sind passiert- Mauern direkt am Turm ohne Abstand, blinde Gänge, unerreichbar hohe Fenster, prunkvolle Türen vor einer Mauer, verdrehte Treppen mit Stufen und Geländern nach unten.
Mir ist wieder aufgefallen, dass es bei diesen ganzen Sachen so viel darum geht, dass man keine Angst haben darf. Alles wird schief und krumpelig, wenn man sich nicht traut...munter drauf los besser, aber wagemutig und man muss vielleicht alles nochmal machen oder mit den Fehlern zurechtkommen. Jede Linie immer eine Entscheidung.

Tag 24

Morgen für Morgen, während ich langsam und noch müde den Berg hochslaufe, schmiede ich Pläne und denke mir Geschichten aus. Mein Kopf ist voll mit Zeug, das organisiert werden will, angeblich, das ist so ein Reflex, wie wenn man sonst in seinen Terminkalender schaut auf seinem Schreibtisch und Häkchen macht oder Sachen durchstreicht auf der Liste, die man jeden Tag erneuert mit den Sachen, die man tun muss, um Brötchen holen zu können beim Brötchenausfahrer.
Den Berg hinunter allerdings renne ich und da wird der Kopf dann auch leer, weil man sich auf Muskeln und Schmerz und Atmung konzentriert.

Hinauf aber denke ich mir Geschichten von Verwandlungen aus - ich komme zurück und meine Hütte ist besetzt von meinen Schnecken.
Geschichten von Künstlern, die sich als Hausbesetzer ausgeben, um in dem Haus, in dem sie auf jeden Fall schon wohnen, das sie aber nicht verantworten wollen, überhaupt noch etwas machen zu können - einfache, simple Bewegungen, vielleicht auch einfach nichts - dann aber wenigstens aus eigener Entscheidung, aus Faulheit vielleicht, auch aus Schläfrigkeit oder einfach wegen der Wasseradern unter dem Haus, die alle Energien in Altersheimbewohner umwandeln.
In der Geschichte, die aus vielen Einzelgeschichten zusammen sich fügt, gibt es Bauwagenbewohner, ebenfalls in Innenstadtnähe, ebenfalls in etwas fast Denkmalgeschützten, die behaupten, sie seien Künstler, und die Platz haben wollen oder brauchen, um Künstler zu werden, weil das besser ist, als Bauwagenbewohner zu bleiben. Und Künstler, die Bauwagenbewohner werden, wegen einer verschüttetem Erinnerung an Rebellion, an Avantgardetradition, vielleicht auch aus persönlichen Gründen, und Bauwagenbewohner, die Baumarktbesitzer werden und Werbegrafiker, die Hausbootbewohner werden in der Hafencity und Besetzer, die Werbegrafiker werden, weil sie eine Menge Praxis im Plakate machen haben und Künstler, die bekannte Künstler werden wollen und bekannte Künstler, die für immer Besetzer bleiben wollen, warum Letzteres, ist unbekannt. Und es gibt Künstler oder Besetzer oder Leute ohne Bezeichnungen, die auf einem Bauwagenplatz wohnen, den sie als Garten bezeichnen, aus ästhetischen oder strategischen Gründen und die aus der Bedrohung, den Garten verlassen zu müssen, ein Buch machen, das von denselben Leuten finanziert wird, die sie aus dem Garten vertreiben, vielleicht, weil sie Äpfel gegessen haben, eher aber, weil der Garten zum Strand werden soll oder zur Betoninsel. Jedenfalls ist ein Buch machen zu dürfen, weil man es machen darf, statt einfach Äpfel zu essen, oder Äpfel einfach auch nicht zu essen, letzendlich Selbstverletzung- ebenso wie auch das Essen der Äpfel und die Verweigerung des Äpfelessens Selbstverletzung ist. Vom Äpfelessen wird man träge und dumm und vom Nicht-Essen wird man hungrig, schwach und verbittert. Man hat also so oder so Schmerzen.
Man kann auch versuchen, sich rauszunehmen und mit den Äpfeln einfach nichts zu tun, aber dann fallen sie runter vom Baum und werden gammlig und matschig mit Wespen dran, in die man tritt, was auch keinen Spaß macht, sondern weh tut. Man hüpft in seinem eigenen Vorgarten dämlich auf einem Bein rum. Das Alles ist immerzu Performance.
Es sollte aber doch eigentlich darum gehen, als Wunsch und Begehren, als Motor und als Freude, einen Ort zu haben, an dem Wirklichkeit anders vorkommt. Eine Utopie von Wirklichkeit. In der Wirklichkeit aber, in der Schnittmenge und Zuschauermenge gibt es eine menge Leute, die gar nichts wollen oder ihre Ruhe oder Angst haben vor irgendetwas, was nirgendwo niedergeschrieben ist, aber in der Regel als Versagen bezeichnet wird oder dass man zu alt ist oder dass man es nicht geschafft hat. Nicht zu vergessen die Einsamkeit.
Ich denke mir also Geschichten aus, ich stelle Behauptungen auf. Es gibt hier ja nichts, weder Äpfel, noch einen Ort, wo man Veranstaltungen machen könnte, etwa ein hübsches Café mit Biergarten, um Geschichte sich erzählen zu können, über die man sich streiten kann, um Filme zu zeigen. Diese Orte werden unterschätzt, wie wichtig die sind.

Tag 25

Jeden morgen treffe ich ein Pferd. Ich bin dann den halbem Weg den Berg hinauf gestiegen, auf dieser langweiligen Asphaltstrasse, die vielleicht noch die Römer angelegt haben, als sie alles abgeholzt haben und die auch keine Aussicht bietet, wegen der Büsche rechts und links. Das Pferd steht allein in einem kleinen Quadrat von Wiese und schaut mich kurz desinteressiert an während es kaut. Ein ordentliches Pferd.

Tag 26

So spreche ich tagelang nicht, ich habe keinen Kontakt, es ist so, dass ich manchmal denke, ich bin in mir selbst eingesperrt. Es ist keiner da, nur eine Nachbarin, die immer nur von sich spricht, ein einsames Selbstgespräch, von dem ich nur die Hälfte verstehe.

Ich habe erst ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, ungefähr 15 bis 20 Sekunden vorher. Dann fangen meine Hände an zu nesteln, ich mache komische Kaubewegungen und atme schneller. Richtig bewusstlos werde ich nicht, aber ganz bei mir bin ich auch nicht. Ich sehe, was um mich herum passiert und fühle mich wie unter einer Glasglocke. Komplex partielle Anfälle. Sie entstehen in meinem Schläfenlappen. Das ganze dauert nur ein paar Minuten. Am Ende des Anfalls habe ich oft einen Würgereiz. Wenn er abklingt, kann ich erst nicht richtig sprechen. Ich kriege die Wörter nicht zusammen oder rede wirres Zeug. Bei leichten Attacken bemerken andere manchmal gar nicht, dass ich einen Anfall habe. Als es mal im Café passiert ist, hat es niemand mitgekriegt.

Tag 36

Es hat die ganze Nacht und den ganzen Morgen geregnet, jetzt, um 17 Uhr, sitze ich in der Hütte und koche eine Pilzcremesuppe aus der Tüte, abgelaufen Aug 2007. Ich habe Kartoffeln von gestern hereingeschnitten, Currypulver und zuviel Muskatnuss. Ich bin zu faul heute zum Kochen. Ich habe zehn Stunden geschlafen und bin trotzdem schon um acht aufgestanden.

Traum mit Brian Eno, der mir verbietet, in seinem avangardistischen Noisechor, in dem alle nur Geräusche von sich geben oder flächige Obertöne, zu singen. Ich könne mich nicht anpassen und die hohen Töne, die ich von mir gebe, würden zu sehr herausstechen. War am Boden zerstört. Ich war der Überzeugung, perfekt in den Chor zu passen, endlich einen Ort gefunden zu haben, Ort der Ruhe. Eine Orgelpfeife zu sein. Ich nehme einen Bus von irgenwoher irgendwohin. Er ist voll Jugendlicher, vielleicht Abiturienten auf Studienreise. Ich tausche lange, tiefe blicke mit einem südländisch aussehendem, dackeläugigen Jungen mit honigblonden Haaren aus, dem ich kurz darauf auf die Bustoilette im Stockwerk tiefer folge. Diese ist die riesige, verchromte und nur durch ein Drehkreuz, das 50ct kostet, zu betretende, öffentliche Toilette des Hamburger ZOB, vollgestopft mit tropischen Planzen aus Plastik, in deren Ranken ich mich verheddere. Ich strample immer fester, stricke mich immer mehr ein, Ranken bis zum Hals, komme nicht weg. Traurig schaue ich dem Jungen hinterher, der um die Ecke verschwindet, wie das weiße Kaninchen.

Tag 37

Ich quäle mich hoch, mit Rückenschmerzen aus dem klammen Bettzeug in die Kälte. Dann geht die morgendliche Zeit schnell herum mit Feuer machen, den Schnecken und der Arbeit im Garten. Ich möchte an meinne Forschungen arbeiten, aber ich bin dauernd müde. Ich hoffe, das vergeht und ich bekomme Energie.
Man denkt ja, man könne davon ausgehen, in so einem Garten ließe sich konzentriert arbeiten. Stattdessen tausend Ablenkungen: Angst zu verhungern, Angst zu verdursten, Angst vor großen Tieren und daß plötzlich ein Investor auftaucht, Angst vor den inneren Dämonen, Alpträumen, Todesfällen, Traueranfällen, vor der eigenen Sterblichkeit oder das alles zu lang dauert und daß man nicht wahrgenommen wird auf so einer Insel, daß man die Insel nicht mehr verlassen kann, so laut man auch schreit und tobt und Anfälle hat, und auch nicht wenn man vernünftig ist und Argumente hat und mit einem großen weißen Segel wedelt oder eines festmacht zwischen zwei Palmen, statt es als Hängematte zu benutzen wegen der Rückenschmerzen, die man bekommen hat vom Bücken oder vom Schleppen. Dauern zerrt man was hinter sich her, Schlingpflanzen und Steine, Treibgut, Kulturschrott und Ikeakataloge und wenn man Glück hat, Sachen, die man auch essen kann: Flusskrebse, Muscheln, Kokosnüsse in Bündeln, ab und zu ein Kaninchen, selten ein größeres Tier. Wenn nur die Müdigkeit weggeht! Es ist kein Kaffee mehr da.
Am Himmel ist jetzt ein ganz heller Streifen zu sehen, vielleicht ist es bald an der Zeit für einen Gang ins Torfmoor. Ich mache lange Erkundungstouren, setze einen Fuß vor den anderen, werde traurig dabei.

Tag 560

Zehn Jahre ist die Sprache fort.

Tag 44

Es gibt lange Perioden ohne irgendeine Verbindung.
Die Nachbarin kann ich eigentlich kaum noch als Nachbarin bezeichnen. Entfernungsbegriffe wie auch Zeitvorstellungen sind hier dehnbar. Ich habe viel Zeit. Die Nachbarin heißt Freitag. Sie kommt aus Freiburg oder Heidelberg und sie will zurück nach Deutschland, das ist alles, wovon sie redet, seit Jahren schon. Im Moment vermisst sie das Wandern in den Bergen und alles andere auch, hier ist es schlimm, alles und sie ist fertig, sie will nur weg. Wandern geht sie hier nicht, es sei zu gefährlich, weil es keine Wege gibt. Ich jedoch genieße das Laufen ohne Weg, ohne das dauernde Gefühl, in einem Park mich zu befinden.
Freitags 'Freund' war auch da. Er redet aber kaum. Wahrscheinlich kann das immer nur eine Person von zwei sein, ein Redner. Auf den ersten Blick zumindest. Vielleicht redet er, mit ihr allein gelassen, plötzlich ganz viel.

Robinson filmt sich selbst. Er ist ein exilierter Künstler aus einem Land im nahen osten, zwischen Euphrat und tigris, und es ist nicht das erste mal, daß er diese Performance macht, sagt er. Er hat sein Video schon an verschiedenen Kunstorten performt, live oder auch von Anfang an als Video.
Robinson spricht in seinem Video über ein anderes Video - ein Video, das Bekannte von Robinson in einem Schrank im Lagerraum eines Gemüsegroßhandels in einem Land im nahen Osten, zwischen Euphrat und tigris, gefunden haben.
Robinson spricht in seiner Performance über das Performancevideo eines anderen. Dieser ist nicht Künstler, sondern Selbstmordattentäter. Der Attentäter, der sich Eva nennt, filmt sich, um eine letzte Botschaft zu verfassen. Diese Videobotschaft soll nach dem Attentat, also nach Evas Tod, von allen wichtigen Fernsehsendern ausgestrahlt werden.
Bemerkenswert ist, daß sich auf der im einem Schrank des Gemüsegroßhandels gefundenen VHS Kassette nicht nur eine Version dieser letzen Botschaft, des Bekennervideos, befindet, sondern mehrere. Die Versionen weichen allerdings kaum voneinander ab. Eva hat sein Abschiednehmen geprobt.
Dies sei nicht weiter verwunderlich, aber Teil eines Phänomens, über das er gerne sprechen möchte in seinem heutigen Vortrag, meint der Medienprofessor. Der immigrierte Professor zeigt das Video im Video als Teil seines Vortrages im Rahmen des Begleitprogramms der Ausstellung mit dem Titel 'Medium Religion', frisch importiert hierher, deren Kurator er selbst ist. Die Wanderausstellung kostet ausnahmsweise hier an diesem Ort keinen Eintritt. Auch alle Begleitveranstaltungen, zb. der heutige Vortrag, können umsonst besucht werden.
Der Attentäter Eva stellt mehrmals, also wiederholt, ein Abschiedsvideo her. Er probt seine Gesten und Worte, die von der Öffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit er durch die Ausführung des Attentates erhofft und vermutlich auch erzwingen kann, als seine letzten wahrgenommen werden. Diese Wiederholung sei das Bemerkenswerte. Der Attentäter hätte ganz offensichtlich nichts proben müssen, die Videos unterscheiden sich nur minimal. Er macht keine wahrnehmbaren Fehler. Dennoch muss er wiederholen. Er weiss: das Wesen des Videos ist die Möglichkeit der Reproduktion, der Vervielfältigung, der Wiederholung. Evas letzte und vielleicht einzige Performance wird unendlich vervielfältigt und wiederholt werden. Bis in alle Ewigkeit. Er probt sein Unsterblichwerden. Er muss ganz sicher sein, dass jede Geste sitzt. Durch die Wiederholung wird Evas Handlung zum Ritual. Er selbst glaubt offensichtlich nicht ganz, was das Video schon weiß, weil dieses Wissen in es eingeschrieben ist, daß seine Botschaft ihn allein durch die Wahl des Mediums unsterblich werden lässt. Völlig egal, was Eva tut, ein Bild von ihm wird immer dableiben. Seine Handlung, seine Botschaft im Video ist austauschbar- Hauptsache, Eva sprengt sich in die Luft. Eva jedoch zweifelt und wiederholt.
Das Wiederholen ist ein Merkmal des Fundamentalismus. Wiederholen, um Festzuschreiben. Wiederholen, um die Handlung zum Ritual werden zu lassen. Um nicht mehr zweifeln zu müssen, nicht hinterfragen zu müssen, nicht rumstochern zu müssen in irgendwelchen Wunden, um sich ausruhen zu können meinetwegen und den Kopf frei zu haben oder kopflos zu werden im wahrsten Sinne des Wortes und nicht im Sinne des Forschens, wenn der Kopf nur noch etwas blutig Zerfetztes ist.

Tag 37

Nur ein Teil des Hirnes ist betroffen. Unterschiedliche Erscheinungsformen, wie Zucken einzelner Gliedmaßen, einseitige Krämpfe, laufende Wiederholung bestimmter Bewegungen. Der Medienprofessor macht seine Aussagen nur per Videoband. Niemand ahnt, daß er längst verstorben ist, jedoch hunderte von Videobändern für seine zukünftigen Auftritte vorproduziert hat.

Ich frage den Medienprofessor nach seiner Meinung: Die Wiederholung könne man doch ebenso als Methode einsetzen, nicht, um etwas festzuschreiben, sondern im Gegenteil, um eine Öffnung zu erzielen. Die exakte Wiederholung sei schließlich unmöglich, es finde immer eine Verschiebung statt. Er selbst habe schließlich behauptet, es gebe kein Originalmaterial.

Eva sieht im Fernsehen die Explosion seines Kopfes. Bald darauf tötet er sich tatsächlich mit einem Kopfschuss selbst.

Der Professor antwortet, ob Wiederholung etwas verfestige oder festschreibe, oder aber eine Öffnung erziele, sei eine Frage der Betrachtungsweise. Zwei Seiten einer Medaille- eine Glaubensfrage.
Der Fundamentalist hat demnach keine Möglichkeit, seine eigene Methodik zu betrachten und Widersprüchlichkeiten zu erkennen, ebensowenig wie der Verfechter von Produktions- und Wahrnehmungsmodellen, die sich den nach wie vor gängigen Zweigeteiltheiten von Identität und Differenz, Subjekt und System, von Original und Kopie zu entziehen suchen.

Die Schnecken sehen sich sehr ähnlich, sind fast identisch.
Ich habe sie Adam und Robinson genannt.

Tag 48

Adam und Robinson wissen nichts von Differenz.
Ich versuche ihnen ihre Namen einzuprägen. Ich scheitere vom einen zum anderen mal. Vernünftiges zureden, Strenge, Beharrlichkeit: Alles ist umsonst.

Tag 83

Der Schüler Adam ist ein Lebewesen; Lebewesen können sich bewegen oder ruhig verhalten, hieraus folgt mit Notwendigkeit, dass Adam sich entweder ruhig verhalten kann oder sich bewegt; aber es ist nicht notwendig, dass er sich ruhig verhält.
Weitere Behauptung: Der Schüler Adam ist wissbegierig. Hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß er Unruhe verbreitet. Nicht nur kann er nicht still herumsitzen, sondern wird, weil er Fragen stellt- was ja seiner Aufgabe und seinem Wesen als Schüler entspricht- auch unbequem in einem unkörperlichen Sinne.

Adam stellt fest, daß 'Schwierigkeiten machen' als etwas gilt, das man auf keinen Fall tun darf, und zwar gerade, weil es einen 'In Schwierigkeiten bringen' kann. Die Rebellion und ihre Unterdrückung scheint also in denselben Begriffen verfangen, ein Phänomen, das zu Adams erster kritischen Einsicht in die subtile List der Macht führt: das herrschende Gesetz droht, Adam 'Ärger zu machen', ja ihn 'in Schwierigkeiten zu bringen', nur damit er keine Schwierigkeiten macht, keine Unruhe stiftet. Daraus schliesst Adam, daß Schwierigkeiten unvermeidlich sind und daß die Aufgabe ist, herauszufinden, wie man am besten mit ihnen umgeht, welches der beste Weg ist, in Schwierigkeiten zu sein.

Tag 90

Ich kann die Schnecken Adam und Robinson nicht auseinanderhalten. Ich habe sie daher links und rechts beschriftet.
Kleine neongelbe Sticker.
Schnecken sind Zwitter.
Auf der linken Seite des Schneckenhaus steht 'männlich', auf der rechten 'weiblich'.
Solange ich die Schnecken nicht anschaue, sind sie gleichzeitig männlich und weiblich.
Ich bin keine Schnecke, ich beobachte Schnecken. Ihr Geschlecht ändert sich je nach Betrachtungsweise.

Eva sitzt zusammen mit einer radioaktiven Substanz in einer Box. Die Substanz zerfällt zufällig mit 50%iger Wahrscheinlichkeit. Tritt der Zerfall ein, wird mit einem Hämmerchen ein Gefäß mit Giftgas zerschlagen, das sich ebenfalls in der Box befindet. Eva stirbt.
Solange ich Eva nicht beobachte, kann ich nicht sagen, ob er noch lebt oder bereits tot ist.
Die radioaktive Substanz befindet sich in einem Überlagerungszustand aus zerfallen und nicht-zerfallen. Auch Eva befindet sich in einem Überlagerungszustand aus gestorben und nicht-gestorben.
Das gesamte Hirn ist betroffen. Plötzliche Versteifung des ganzen Körpers, Verdrehen der Augen, wiederholte, rhythmische Krämpfe in den Extremitäten.

Eva ist ein Lebewesen; Lebewesen sind entweder tot oder lebendig, hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß ein Experiment wie das beschriebene Unruhe verbreitet und die Wissenschaft in Schwierigkeiten bringt oder zumindest in einen Zustand, der den Bereich der Wissenschaft verlässt und in den Bereich des Glaubens eintritt.

Tag 346

Der neue Turm ist schon ziemlich hoch. Ich will ihn mit einem fragilen Geflecht aus Reisig krönen, was sehr hübsch aussehen wird. Es erinnert mich an die japanischen Mönche, die, unangepaßt und von der Gesellschaft ausgestoßen, bettelnd und Flöte spielend, in selbstgewählter Verbannung lebend, durch die Lande zu ziehen.

Tag 102

Ich dachte, ich werde weicher, aber so ist es nicht. Freitag, die Nachbarin, überließ mir am Sonntag ihre drei Kinder.
Das Baby ist erst wenige Monate alt. Ich wechselte zehnmal die Windeln und gab ihm zwei Flaschen. Die Milch muss die richtige Temperatur haben, mundwarm. Brustwarm. Ich fasse mir an die Brust, stecke mir einen Finger in den Mund und sauge kurz daran.
Ich bin immer noch der Überzeugung, daß diese Menschen, die so stolz darauf sind, drei Kinder in die Welt gesetzt zu haben und großzuziehen, der Welt weniger geben als jedes meiner Experimente. Es ist die Überzeugung ihrer Rechtschaffenheit, ihr Glauben, der nichts mit bewusster Entscheidung zu tun hat, die mich schmerzt. Ich würde sie lieber von weniger Kindern und mehr Schönheit umgeben sehen, weniger Kindern, die besser erzogen werden, weniger Kindern und mehr Nahrung für alle, mehr Hoffnung und weniger Krieg. Ich war also keineswegs stolz darauf, drei Kindern mit Gesichtern wie Pudding oder Hafergrütze über einen Sonntagnachmittag hinweggeholfen zu haben. Es hätte mich mit größerem Stolz erfüllt, eine neue Tabelle angelegt zu haben.
Die Sinnlosigkeit des Forschens wäre kein Grund, damit aufzuhören, denn sinnlos ist alles. Würde ich ein normales Leben führen mit einem normalen Beruf, fände ich das nicht weniger sinnlos. Einen Sinn erwarte ich nicht. Das Forschen ist gelegentlich ein Rettungsboot im Meer der Sinnlosigkeit. Ich kann gut leben ohne zu forschen. Sehr gut sogar. Es gibt Tage der Melancholie, aber die können auch schön sein. Ich müßte es machen wie ein Schriftsteller, der sich jeden Morgen um acht an den Schreibtisch setzt, auch wenn er keine Lust und keine Einfälle hat. Dazu fehlt mir die Disziplin. Ich halte Arbeit für einen Fluch im biblischen Sinne. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen. Es ist eine uns aufgebürdete Last. Damit müssen wir fertigwerden. Ich bin nach den Gesetzen der Marktwirtschaft ein Verlustgeschäft.

Tag 103

Die Wochen hier, in denen sich mein Leben ausschließlich auf nachbarliche Beziehungen beschränkt, beweisen mir, daß das einfache Leben unkreativer Menschen für kreative Menschen unfruchtbar ist, eng, monoton und ohne echte Bereicherungen. Freundlichkeit, Frieden und Routine sind nicht genug.
Allerdings verschafft mir die Natur tatsächlich Ruhe, wenn sie mich nicht gerade zur Bewunderung zwingt oder mich durch den andauernden Regen ohne Sonnenschein zu zermürben versucht. Ich steige jeden morgen auf den nächsten Hügelberg, ich steige hoch, denke mir Sachen aus, untersuche das Persönliche. Im Persönlichen besteht Hoffnung, einen Grund für eine Handlung zu entdecken, in der Geschichte nie. Die Geschichte lügt. Sie wird von Menschen mit persönlichen Vorurteilen ihrer persönlichen Vorteile zuliebe geschrieben, die niemals kontextlos sind.

Tag 167

Das Ritual wird nicht hinterfragt. Es ist unantastbar und unendlich wiederholbar. Bis in alle Ewigkeit.

Ich baue seit zwei Wochen an einem blöden Bett. Am sinnvollsten ist natürlich ein Futon. Materialien sind vorhanden: Holz, Kokosmatten und wenn ich die toten Schafe sammle, die in Schluchten herumliegen oder angeschwemmt werden, könnte ich irgendwann genug Fell zusammenhaben, um eine Decke zu weben.
Das ehrgeizige Architekturprojekt wurde aus Kostengründen nicht gebaut, gilt aber bis heute als Architekturikone.

Tag 285

Ich erinnere mich, daß ich auf Einladung des Medienprofessors einmal einen Vortrag über meinen Turm hielt.
Er lud mich zum danach für einige Tage in sein prunkvolles Sommerhaus mit riesigem Garten ein. Es waren noch andere Gäste anwesend, einige designer, einige Verwandte des professors und natürlich seine frau, die sehr schön und auch sehr freundlich zu mir war.
Wir saßen nach dem Essen im Garten, ein Designer erzählte mir, mein Turmmodell habe ihn zum Design eines Sofas inspiriert- das spiralförmige Polstermöbel sei für die Raummitte gedacht. Ein Totem für das Wohnzimmer und für institutionelle Räume, das neue Sitzmöglichkeiten eröffnet. Die Basis aus Schichtholz sei mit Metallfüßen versehen. Die Spirale, ein Meisterwerk der Technik, bestünde aus formgepresstem und dann geformtem Stahl. Die Polsterung aus PUR-Schaum sei elastisch und atmungsaktiv. Der Samtbezug könne auf Wunsch durch verschiedene Stoff- und Lederbezüge seiner Kollektion ersetzt werden-, danach sprach er von der 'spezifischen Schönheit' der Reklametafeln und Neonlichter in Städten wie New York. Er sagte, man solle sie als Pop Art betrachten. Ich sprach von der Unmenschlichkeit von Flughäfen.
Ein anderer Gast interviewte mich regelrecht.
Heute hatten Sie keinen Fahrradunfall?
Sie reden so, als wäre das mein tägliches Vergnügen.
Angeblich sind Sie schon zweimal mit Heisenberg zusammengestoßen.
Was heißt angeblich?..Einmal bin ich ihm ins Auto gefahren, in Lewis, und einmal direkt in die Beine, das war in Jackson.
Vielleicht fahren sie zu schnell.
Nein, nein, gar nicht. ich habe ein Klapprad, keine Gänge. Und wenn ich zwanzig Kilometer in der Stunde fahre, ist das schon viel. Kürzlich habe ich einen befreundeten Wissenschaftle- Mikrobiologe, in seiner Freizeit AvantgardeJazz-Kartographierer und Flötenspieler- angefahren. Ein pingeliger Typ, der sich auch gleich über seine dreckige Hose mokiert hat. Ich könnte dir die Hose signieren, hab ich ihm gesagt. Er hat dann gelacht und geklatscht und mich auf einen Kaffee eingeladen.
Daraufhin fragten mich die Damen über meine Heimat aus, was schließlich darauf hinauslief, daß sie mich baten, ihnen aus der Hand zu lesen. Ich nahm also die Rolle eines Handforschers ein und begann ich ihre Hände zu betrachten und dabei hunderttausend Absurditäten zu erfinden. Dies erfreute sie so sehr, daß ich zu ihrem Liebling avancierte. Die darauffolgenden Tage und Nächte wurde ich von geradezu von Frauen und Männern verfolgt, die sich von mir die Zukunft voraussagen lassen wollten, so daß ich schließlich meinen Gastgeber um die Erlaubnis bat, sein Haus zu verlassen.
Daß diese Leute Lösegeld verlangten war allen klar.

Tag 182

Angeblich hat der Mensch ein solches Bedürfnis, vom Paradies zu träumen, daß er sich weigert, das Nichtparadiesische an der Insel zu sehen. Ich suchte danach, fand aber nichts Negatives, mit Ausnahme der Moskitos. Mir schien die Natur äußerst großzügig zu sein. Die winzigen Inseln, die ich von der großen Insel aus sah, waren nie verlassene, lebensfeindliche Orte. Kokosnüsse fallen von den Bäumen, rollen an den Strand, werden von der Flut davongetragen, schwimmen auf dem Meer, bis sie eine Insel erreichen, und in kurzer Zeit entsteht ein Kokoshain, der alles liefert, was ein Mensch zum Leben braucht. Die äußere Schale ist eine Schüssel, aus der man essen kann. Die Milch und das weiße Fruchtfleisch sind nahrhaft. Die Fasern der harten Schale werden gewoben und dienen als Kleidungsstücke. Die jungen Blätter lassen sich zu Körben, Hüten und Fächern flechten. Die Fasern benutzt man für Seile und Matten und dichtet damit Kanus ab, sogar Verletzungen am Schädel werden mit Kokosschale geschlossen.

Tag 130

Habe getraumt, ich stünde unter der Gemeinschaftsdusche eines Schwimmbades und könne nur den einen Satz denken: die Suche nach Nahrung erschöpft mich so, daß ich abends zu müde bin, um essen zu können.

Tag 202

Es gab die Erwähnung eines Ortes, der fruchtbar zu sein schien, später aber unfruchtbar wurde. Diese Beschreibung trifft historisch genau auf die Änderung der Verhältnisse zu, wie sie laut Feststellung der Klimaforschung am Ende der letzten Eiszeit erfolgten. Die einst grüne Steppe trocknete aus und zwang die Menschen, ihre nur noch saisonal verfügbare Nahrung mittels Vorratshaltung zu strecken, was u.a zum Obstanbau führte, der auch in Bezug auf die Vertreibung als neue Ernährungsbasis benannt wird.

Tag 70

Reglos, mit stumpfen Augen, scheint Adam die Laute, die ich ihm einzuprägen versuche, nicht aufzunehmen. Obwohl nur ein paar Schritte von mir entfernt, scheint er weit weg zu sein. Im Sand ausgestreckt wie eine kleine verwitterte Sphinx, lässt er die Himmel über sich kreisen, von früh bis abend.
Fast denke ich, Adam und ich gehören verschiedenen Universen an; ich bin fast überzeugt, unsere Wahrnehmungen seien zwar die gleichen, doch füge Adam sie anders zusammen und bilde aus ihnen andere Gegenstände; fast denke ich, es gibt für ihn keine gegenstände, sondern nur ein schwindelerregendes und fortwährendes zusammenspiel blitzschneller eindrücke. Ich denke an eine Welt ohne gedächtnis, ohne zeit; ich erwäge die Möglichkeit einer Sprache, die Substantive nicht kennt, einer Sprache aus unpersönlichen verben oder nicht deklinierbaren beiwörtern.

Tag 256

Mein Turmbau war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der Professor behauptete damals zwar, das ehrgeizige Projekt sei an Geldmangel gescheitert, tatsächlich war das Projekt aber schon von vorneherein als Unmöglichkeit angelegt, allerdings als eine, die so laut schreit und so schön ist, daß man nie aufhören möchte, sie verwirklichen zu wollen. Das ist die Dynamik der Revolution, daß sie nie wirklich werde. Sobald eine Revolution stattgefunden hat, ist sie natürlich niemals eine gewesen, sie wird als Geschichte abgelegt und fängt an zu schlafen wie Dornröschen, die ebenfalls im Schlaf besonders gut aussieht. Der Turm sollte von allen Stahlarbeitern der Welt gemeinsam gebaut werden. Wer oder was sind nun Stahlarbeiter? Gehören Künstler wie Richard Serra oder Uecker dazu oder auch Tinguely und Beuys, der mit allen Künstlern der Welt, also mit aller Welt, weil alle Künstler, der jedenfalls Rost mochte, gehören diese Menschen dazu oder wird denen von den Stahlarbeitern der Kopf abguillotiniert eher, wenn sie mitmachen möchten beim Turmbau? Und was ist überhaupt Kunst und was ein Künstler? Letztendlich, ganz einfach, mochten jedenfalls die Stahlarbeiter in Nordkorea die in Südkorea nicht und die in der DDR mochten die in Westberlin nicht und die woanders sind mochten die, die am Zug sind nicht und das verhinderte den weltweit gemeinsamen Bau schonmal.
Freitag jedenfalls will den jetzigen Turm bewohnbar haben, kindergerecht und vor allem soll er höher sein.
Ich verstehe mich als Forscher oder Philosoph, einer, dessen Vokabular und Grammatik bald niemand mehr kennt, ich bin kein Stahlarbeiter, jedoch zur See gefahren. Forscher sind zwielichtige flatterhafte, romantische Gestalten per se, es fällt leicht, ihnen den Elfenbeinturm vorzuwerfen. Elfen haben nichts mit Elfenbein zu tun, erinnern aber an Gestalten aus dem alten Testament.
Zwei Liebende vergaßen über ihrer großen Liebe ihre Pflichten. Er vernachlässigte die Arbeit auf den Feldern und sie die Arbeit am Webstuhl. Als Strafe versetzten sie die Götter in den Himmel, wo sie sich nur zweimal im Jahr treffen. Dann nimmt sich Robinson einen Stapel Kunstbücher mit ins Bett und sie ist schwanger.
Der Forscher ist das Vorzeigesubjekt in in neoliberalen Verhältnissen. Forscher sind aufgefordert, sehr flexibel zu arbeiten. Sie sind bereit, vollkommene Selbstausbeutung zu betreiben, und die wird mit Erfüllung markiert. Dann wird gesagt, das hat sich gelohnt. Und die hundert anderen, die es nie schaffen, die interessieren niemanden.

Tag 290

Als ich mich- dank geduldiger Bemühung- allmählich von allem frei gemacht hatte, was in mir an Aberglauben, Ästhetizismus, Snobismus, Kinderei und dergleichen steckte, stellte ich fest, daß mein so beschnittenes, ausgebessertes und von überflüssigem Schmuckwerk befreites leben zweifellos weniger angreifbar war, doch nicht mehr viel Lebenswertes enthielt.

Tag 80

Seit vier Tagen habe ich nichts gegessen. Adam redet ununterbrochen auf mich ein, in einer Sprache, die ich kaum noch verstehe. Dabei habe ich sie ihm selbst beigebracht.

29.06.09

You can find me in the lexicon, the lexicon

Titel:
YOU CAN FIND ME IN THE LEXICON, THE LEXICON


Kontext:

Auftragsarbeit/Beitrag zu:

you can find me in the lexicon,
in the lexicon – Archivbegehungen

Imaginary Archive 1&2 , Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich,
DESO Radiomuseum, Phonogrammarchiv, Archiv für Zeitgeschichte
05./06./07. Juni 2009/Zürich
In «you can find me in the lexicon, in the lexicon» wird Queerness in ausgewählten Archiven
behauptet, platziert und ausgetestet. Fiktionen werden eingeflochten, Referenzen
hergestellt und kollektiv Performatives durchgespielt. So dient beispielsweise das Archiv als
Kulisse, um öffentlich Zeugnisse neu abzulegen; eine temporäre Geschichtsumschreibung.
Das Dokumentarische, das lange als Bild der Welt gegolten hat, wird hier zur Welt als Bild. Vom 5. - 7.Juni sollen Führungen, Lesungen, Performances in bestehende Archive, die vordergründig keinen direkten Bezug zu Queerness aufweisen intervenieren. In einer Wechselwirkung beeinflussen sich das Archiv und die darin performten Arbeiten, so dass nochmals andere Zusammenhänge hervorgehoben und bestehende Narrationslinien weitergeschrieben werden.
So werden z.B. in einer performativen Führung der Künstlerin Simone Schardt imaginäre, queere und fiktive Themenfelder in die Sammlung des Migros Museums eingebracht und vergegenwärtigt. Im Vorfeld wurden dafuer diverse Kuenstlerinnen und TheoretikerInnen eingeladen in einem Textbeitrag Werke, die sich in der Sammlung befinden bzw. befinden könnten zu beschreiben.

Beitrag Itty Minchesta:

Ich möchte ein Bild beschreiben, welches sich im Kulturbüro 1 in Zürich befindet.
1 Das Kulturbüro unterstützt Kulturschaffende, indem es ihnen eine arbeitserleichternde Infrastruktur wie z.B. die Ausleihe von technischem Equipment, die Möglichkeiten zum Kopieren, Faxen, eine kleine Bücherei etc. zur Verfügung stellt. Der Ort, bis vor fünf Jahren selbstorganisiert und finanziell unabhängig, wird heute über das MIGROS 2 Kulturprozent 3 finanziert.
2 MIGROS ist eine 1925 von Gottlieb Duttweiler gegründete und ursprünglich in seinem Besitz gewesene Schweizer Einzelhandelskette, die 1941 von ihrem Gründer in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner der Schweiz und des angrenzenden Auslands hat das Recht, kostenfrei Genossenschafter der MIGROS und damit Miteigentümer zu werden. Duttweiler, überzeugter Humanist mit basisdemokratischen, vielleicht sogar sozialistischen Ideen und Tendenzen, die er innnerhalb und durch die Genossenschaft MIGROS umsetzte, wollte damit die demokratische Kontrolle des grössten Schweizer Detailhändlers erreichen.
3 Das Kulturprozent ist in den Statuten der Migros fest verankert und basiert auf einer Idee von Duttweiler: ein Prozent des Jahresgewinnes der MIGROS solle für Kultur ausgegeben werden.
Das Bild ist etwa drei mal zwei Meter groß und nimmt eine ganze Wand des Kulturbüros ein. Aufgrund seiner Größe und des Malstils, realistisch bis naiv, erinnert es an ein Mural 4.
4 ein meist politisch motiviertes Wandgemälde im öffentlichen, vorzugsweise politisch umkämpften Raum.
Die vorherrschenden Farbtöne des in Acryl auf drei einzelne Holzplatten gemalten Bildes sind blau, grau, grün und rosa.
Bei gutem Wetter, rosa Wolken und einem gelben Sonnenstreifen am Horizont über einer grauen Betonmauer, steht rechts im Bildvordergrund ein Mann mittleren Alters in blauen Shorts und Gesundheitssandalen auf einem fast leeren Parkplatz. Nur vor der Mauer wachsen einige kugelförmig beschnittene, symmetrisch in Reihung gepflanzte, künstlich grün erscheinende Bäumchen. Der mittlere von sieben Bäumen ist offensichtlich abgestorben, verdorrte Äste ragen in die Höhe. Die Bäume sind im Bildvordergrund gespiegelt, es ist jedoch nur links angeschnitten ein Baum zu sehen. Der Parkplatz gehört höchstwahrscheinlich, betrachtet man das Gebäude im Hintergrund, zu einem Supermarkt. Ein standarisiertes, einstöckiges, langgezogenes Backsteingebäude, funktional, mit Wänden wie Mauern. Davor zwei leere, ineinander verkeilte Einkaufswagen. Das Supermarktgebäude bildet die Begrenzung des Bildes nach links.
Der Mann liest mit leicht gebückter Haltung in einem Buch. Von seiner rechten Hand, sowie an seinem linken Arm, in dessen Hand er das Buch hält, baumeln Jutetaschen, ebenso weiß und unbedruckt wie sein T-Shirt. Den Kopf leicht nach links unten in Richtung des Buches geneigt, sieht der Mann, der generell zufrieden und selbstsicher wirkt, ein Rentner, der es zu etwas gebracht hat, beim Lesen konzentriert und leicht skeptisch aus. Und er wirkt intelligent, trotz einer leichten Feistigkeit und der unvorteilhaften Freizeitkleidung.
Der Mann mit Namen Gottfried Duttweiler 2,5 steht nicht wirklich auf dem Parkplatz, sondern läuft viel eher, sehr, sehr langsam und abgelenkt - er liest ja schließlich. Sein Einkauf wie auch sein Nachhauseweg interessieren ihn nicht sonderlich, er hat letzteren schon zu oft routiniert zurückgelegt. Das Buch, in dem Duttweiler so aufmerksam liest, trägt den Titel "Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion", geschrieben von Hans A. Pestalozzi.5
5 Pestalozzi war persönlicher Sekretär von MIGROS-Gründer Duttweiler und teilte dessen Überzeugungen und Ideen. Er war ab 1962 Vizedirektor der MIGROS, ab 1966 Vizedirektor des Gottlieb Duttweiler Instituts und wurde, da er noch radikal sozialistischer als Duttweiler war, direkt nach dessen Tod im Jahre 1979 von der neuen, marktwirtschaftlich orientierten Führung entlassen.
Pestalozzi reagierte darauf mit einem politischen Feldzug gegen die MIGROS, der Demokratisierungsbewegung M-Frühling. Er bezeichnete sich selbst als 'autonomen Agitator' und avancierte zum populärwissenschaftlichen, linken, gesellschaftskritischen Bestsellerautor, was ihm nebenbei viel Geld einbrachte. 1984 zog er sich auf einen Bauernhof zurück und beging 2004 fünfundsiebzigjährig Selbstmord.
Der MIGROS-Vorstand höhlte derweil die Ideen Duttweilers immer mehr aus. Ein illustrierendes Beispiel: Duttweiler hatte Zeit seines Lebens ein Verkaufsverbot von Tabak und Alkohol in MIGROS-Läden durchgesetzt. Nach seinem Tod wurden oft direkt neben MIGROS Supermärkten Filialien der Kette Denner 6 eröffnet, in denen Tabak und Alkohol verkauft wird.
6 Denner wurde von der Führung der MIGROS gegründet und ist somit eine Tochtergesellschaft der MIGROS.
Das Bild wirkt nicht unbedingt deprimierend, jedoch sediert, wenn auch nicht sedierend. Alle Dinge, alle Menschen darauf, wirken beziehungslos und isoliert, leicht hospitalistisch.
Ich schreibe Menschen im Plural, denn ich habe bis jetzt eine Person im Bild unterschlagen. Duttweiler befindet sich nicht allein auf dem Parkplatz. Im Hintergrund, nach links von ihm abgewendet, fast vor der Betonmauer, ist eine weitere Gestalt zu sehen. Längere braune Haare und ein hellrosa Strickpullover lassen die Figur eher weiblich erscheinen. Der Einfachheit halber behaupte ich also, sie sei eine Frau. Sie steht gebückt, mit hängendem Kopf und Armen. Eventuell schlenkert sie mit den Armen. Die Bewegung ähnelt einer Lockerungsübung, jedoch ohne Anspannung und Energie. Im Gegenteil: alles an der Frau wirkt erschöpft - sie lässt sich gehen. Dieser Eindruck wird durch eine Spur von Bananenschalen verstärkt, die sich gerade hinter ihr herzieht. Die Frau legt offensichtlich die Bananenschalen aus. Sie spielt ein Spiel - Himmel und Hölle, sie versucht, nicht in die Zwischenräume der Gehwegplatten zu treten, sie ist auf dem Nachhauseweg von der Schule. Den Weg kennt sie gut. Sie macht sich keine Illusionen mehr darüber. Dennoch wird sie, wenn sie so weitermacht, einfach so weiterläuft, gegen die Backsteinmauer des Supermarktes laufen, so als stelle diese kein Hindernis dar. Der Weg des Rebellen7.
7 'Herrgott, was gehen mich aber die Gesetze der Natur und der Arithmetik an, wenn mir aus irgendeinem Grunde diese Gesetze und das Zweimal-Zwei-Ist-Vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde solch eine Mauer nicht mit dem Kopf einrennen, wenn ich tatsächlich nicht die Kraft dazu habe, aber ich werde mich mit ihr doch nicht aussöhnen, bloß weil es eine Mauer ist und meine Kraft nicht ausreicht.'
Trotz aller Erschöpfung ist die Frau offensichtlich beharrlich in ihrem Tun. Sie hat aufgehört zu hinterfragen, was sie da tut, sie tut es, weil sie es angefangen hat, sie kümmert sich nicht darum, ob und daß ihr Tun unpassend ist, unnütz, ein Anachronismus. Die Frau heißt Ursula Brunner.8
8 Ursprünglich Pfarrerin, ist Ursula Brunner als ‚Bananenfrau’ bekannt geworden, zusammen mit einigen anderen Frauen ist sie eine Pionierin des Fairtrade. Ihre erste politische Aktion 1973 bezog sich direkt auf eine Kampagne mit billigen Bananen von MIGROS. Alle Bananenfrauen waren MIGROS-Genossenschaftsmitglieder und versuchten diese zusammen mit Pestalozzi zu erneuern. Frau Brunner scheiterte auf lange Sicht - weniger wie noch zu Beginn ihres Kampfes an der MIGROS, mehr jedoch an den verschlungenen Pfaden des sich immer selbst erneuernden Kapitalismus und seinen Machtzusammenhängen, der es ermöglicht, das heute in jeder Supermarktkette sogenannte 'Fair Trade Bananen' angeboten werden. 'Das sei nicht das, was sie gewollt habe.’
Das Bild befindet sich im Kulturbüro in Zürich. Es ist 2007 auf Einladung des Kulturbüros gegen Bezahlung von 300SF vom Hamburger Künstler Paul Dose9 gemalt worden.
9 Paul Dose ist Teil der AtomicTitCorporation10 deren anderes ständiges Mitglied Itty Minchesta diesen Text geschrieben hat.
10 Die AtomicTitCorporation, 1999 gegründet, ist ein interdisziplinäres, kontextbezogen arbeitendes, daher multimediales, künstlerisches Forschungsprojekt.
www.atombusentransporte.de

13.02.09

Meine Preise

Ihr letzter Roman, "Der Tod in Rom", ist 1954 erschienen. Danach ist Ihnen das einzigartige Kunststück gelungen, Ihr Schweigen in den Rang einer literarischen Leistung zu heben.
WOLFGANG KOEPPEN: Das ist nicht mir gelungen. Das haben andere getan.
Ich zitiere: Wolfgang Koeppen ist einer unserer größten Schriftsteller. Er ist es auch, weil er so lange geschwiegen hat und vielleicht lange noch schweigen wird."
KOEPPEN: Haben Sie das geschrieben?
Nein, die Frankfurter Rundschau.
KOEPPEN: Gott, es hat viele Schriftsteller gegeben, die jahrelang nichts veröffentlicht haben, oder sie waren klug genug, im rechten Zeitpunkt zu sterben. Es bereitet mir Unbehagen, daß Leute fragen: Wann kommt der nächste Roman? Aber Tatsache ist, daß ich gerade an einem sitze. Er heißt "Das Schiff". Leider gefällt er mir nicht. Ich hätte ihn längst aufgegeben, wenn Siegfried Unseld, mein Verleger, ihn nicht unbedingt haben wollte. Ich hatte eine Schiffsreise gemacht und Unseld, als ich zurückkam, erzählt, was mir alles passiert war. Er hat sich halb totgelacht.
Angekündigt haben Sie schon viele Romane, auch Titel bekanntgegeben, "In Staub mit allen Freunden Brandenburgs", "Tasso","Ein Maskenball"...
KOEPPEN: Ja.
1970 wollten Sie den Untergang Europas beschreiben.
KOEPPEN: Daran kann ich mich nicht erinnern.
Finden Sie keinen Sinn mehr in der literarischen Arbeit?
KOEPPEN: Das wäre kein Grund, damit aufzuhören, denn sinnlos ist alles. Würde ich ein normales Leben führen mit einem normalen Beruf, fände ich das nicht weniger sinnlos. Einen Sinn erwarte ich nicht. Das Schreiben ist gelegentlich ein Rettungsboot im Meer der Sinnlosigkeit.
Ertragen Sie es, zu leben, ohne zu schreiben?
KOEPPEN: Sehr gut sogar. Es gibt Tage der Melancholie, aber die können auch schön sein. Ich müßte es machen wie Thomas Mann, der sich jeden Morgen um acht an den Schreibtisch setzte, auch wenn er keine Lust und keine Einfälle hatte. Dazu fehlt mir die Disziplin.Ich halte Arbeit für einen Fluch im biblischen Sinne. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen. Es ist eine uns aufgebürdete Last. Damit müssen wir fertigwerden.
Ihr Verleger zahlt Ihnen monatlich eine gewisse Summe, die das, was durch Ihre Bücher hereinkommt, weit übersteigt.
KOEPPEN: Das ist richtig.
Haben Sie kein schlechtes Gewissen?
KOEPPEN: Nicht im geringsten.
Wissen Sie, wie Ihr Verleger darüber denkt?
KOEPPEN: Ich habe mit ihm nie darüber gesprochen, er auch nicht mit mir.
In der Zeitung stand, er erwarte von Ihnen den deutschen "Ulysses".
KOEPPEN: Um Gottes willen, reden Sie ihm das bloß nicht ein.
Nach den Gesetzen der Marktwirtschaft sind Sie für ihn ein Verlustgeschäft.
KOEPPEN: Was geht mich die Marktwirtschaft an? Manche Schriftsteller haben das Geldproblem schon mit der Geburt gelöst. Flaubert, Proust, Gide waren Erben. Das gibt es auch. Musil war in einer ähnlichen Lage wie ich. Dem ging es sogar noch schlechter. Rowohlt jammerte dauernd,was Unseld nicht tut, daß er Herrn Musil sein Leben lang finanzieren müsse. Ein Autor ist für einen Verleger eine Investition va banque. Irgendwann kommt das Geld wieder herein, in manchen Fällen erst nach dem Tode. Aber so viel bekomme ich gar nicht. Ich hätte gern mehr Geld zur Verfügung. Ich möchte zum Beispiel, wann immer ich will, nach New York fliegen können.
Dazu müßten Sie Ihren Roman fertigschreiben.
KOEPPEN: Das sehe ich eben nicht ein.
Wie viele Seiten haben Sie schon?
KOEPPEN: Ungefähr hundertfünfzig.
Das reicht doch! Jetzt lassen Sie das Schiff einfach untergehen, und UnseId ist selig.
KOEPPEN: Sie haben recht. Das habe ich mir auch überlegt.
Stimmt es, daß Sie in jungen Jahren darauf versessen waren, besonders dicke Bücher zu schreiben?
KOEPPEN: Ja, das war kindisch. Ich war Redakteur beim Berliner Börsen Courier und hatte ein Buch begonnen, "Memoiren eines Neunzigjährigen".Das Manuskript ist im Krieg leider verbrannt. Meine Vorstellung war, mich morgens wie ein Sklave an die Arbeit zu setzen und nachmittags das Leben eines Bohemiens zu genießen. Mein erster Roman, "Eine unglückliche Liebe", ist so entstanden. Das war 1933, in diesem entsetzlichen Unglücksjahr, in dem aber noch ziemliche Freiheit herrschte. Die meisten glaubten, daß alles nicht so schlimm werden würde.Ich glaubte das nicht. Ich wußte sofort, daß Hitler Krieg machen würde.
Haben Sie das geschrieben?
KOEPPEN: Das war nicht mehr möglich. 1934 bin ich nach Holland in die Emigration gegangen. Der Lektor meines damaligen Verlegers Cassirer,Max Tau, kam zu mir und bedrängte mich, einen zweiten Roman zu schreiben. Daraus wurde "Die Mauer schwankt". Das Buch beginnt mit einer Schilderung tyrannischer Zustände in einem Balkanland. Also das war schon deutlich.
Trotzdem haben es die Nazis geduldet.
KOEPPEN: Weil es keiner gelesen hat.
Das stimmt nicht. Es wurde sogar neu aufgelegt.
KOEPPEN: Ja, weil Cassirer Jude war und sein Verlag aufgelöst wurde. 1939 kam das Buch unter dem blöden Titel "Die Pflicht"neu heraus. Mir war das nicht recht. Aber was hätte ich tun sollen?
Warum sind Sie 1938 nach Deutschland zurückgekehrt?
KOEPPEN: Aus finanziellen Gründen. Die Einnahmen aus meinen Büchern durften nicht ausgeführt werden, und in Holland verdiente ich nichts. Später hat man behauptet, ich sei bei Kriegsausbruch freiwillig zu den Fahnen geeilt. Aber ich war nicht einen einzigen Tag Soldat. Also das ist eine glatte Lüge. Ich habe mich wie andere Autoren beim Film untergestellt und Drehbücher geschrieben. 1944, als man verlangte,ich solle einen Filmstoff auf Parteilinie trimmen, bin ich untergetaucht.Das letzte Kriegsjahr habe ich illegal in einem Keller verbracht.
1982 schrieb der Medienwissenschaftler Karl Prümm in der Literaturzeitschrift"Schreibheft": "Die Unerbittlichkeit, mit der Koeppen bis heute die Verleugnung und Verharmlosung der Nazivergangenheit bekämpft,ist gewiß entscheidend geprägt durch die schmerzhafte Erkenntnis,wie nahe die eigenen Wunschbilder an die verführerische Seite desNationalsozialismus herangerückt waren."
KOEPPEN: Verzeihen Sie, aber dieser Mann ist ein Idiot.
Er meint, Sie seien der "Faszination des Faschismus" erlegen.Ihr Roman "Die Mauer schwankt" enthalte "nationalistische Phrasen".
KOEPPEN: Das ist eine grobe Verleumdung. Keine Zeile in diesem Buch rechtfertigt eine solche Behauptung.
Zum Beweis wird folgende Stelle zitiert: "Draußen geschahen die Kämpfe. Aus den Kämpfen würden die Werte kommen. Und mit den Werten vielleicht das lebenswertere Leben."
KOEPPEN: Ja, so denkt meine Romanfigur. Aber die ist von mir durchaus kritisch gesehen. In Heinrich Manns "Untertan" wimmelt es vonnationalistischen Phrasen, aber die spricht nicht Heinrich Mann, sonderndie Figur, die er erfunden hat. Solche. Vorwürfe sind lächerlich.Kästner hat man vorgeworfen, er sei unter den Nazis am Kurfürstendamm gesessen und habe Sekt getrunken. Dabei war Kästner durch sein Gedicht'Wenn wir den Krieg gewonnen hätten ... " der in Deutschland am meisten gefährdete Mensch. Die Nazis wollten ihn hängen. Daß er trotzdem blieb, ist eine besonders mutige Haltung.
Haben Sie je daran gedacht, das Regime aktiv zu bekämpfen?
KOEPPEN: Sollte ich Bomben legen?
Zum Beispiel.
KOEPPEN: Das ist nicht meine Art. Ich kann mit Bomben nicht umgehen. Außerdem halte ich Attentate für sinnlos, weil sie den Gang der Geschichte nicht ändern können. Mein Widerstand war, charakterlich bedingt, passiv. Ich habe nichts für die Nazis getan, und ich habe vieles nicht getan, was von einem deutschen Bürger damals erwartet wurde.
Haben Sie jemals Schuld empfunden?
KOEPPEN: Ja, in einer bestimmten Situation in meinem privaten Leben.
Ihrer Frau gegenüber?
KOEPPEN: Ja.
Sie war Alkoholikerin.
KOEPPEN: Ja, sie konnte zuletzt nicht mehr auf den Beinen stehen. Da habe ich sie in eine Klinik einweisen lassen. Ich habe sie weggegeben. Das machte mir Schuldgefühle.
Aber es war die einzige Möglichkeit.
KOEPPEN: Trotzdem. 1985 ist sie gestorben.
Wissen Sie, warum sie getrunken hat?
KOEPPEN: Das habe ich nie erfahren. Sie trank bereits, als ich sie kennenlernte. Sie war sechzehn Jahre alt. Ich traf sie kurz nach dem Krieg. Wir feierten ihren Geburtstag. Damals fand ich ihr Trinken noch lustig. Ich wußte nicht, daß es ein Leiden war, eine Krankheit.
Hat die Trunksucht Ihrer Frau Sie am Schreiben gehindert?
KOEPPEN: Diese Frage beantworte ich eigentlich nicht. Ich liebte diese Frau. Natürlich gab es rein praktisch Verhinderungen. Manchmal habe ich mir ein Zimmer in einem Hotel genommen, wenn ich in der Wohnung nicht schreiben konnte. "Das Treibhaus" ist zum größten Teil im Bunkerhotel unter dem Stuttgarter Marktplatz entstanden.
In diesem Buch gibt es eine Frau, die trinkt, weil sie den Gedanken an die Schrecken des Krieges nicht aushält.
KOEPPEN: Das war bei meiner Frau nicht der Fall.
Wie lenken Sie sich von der Verzweiflung ab?
KOEPPEN: Ich lenke mich überhaupt nicht ab. Das will ich nicht. Ich würde niemals zur Flasche greifen, um mich von einer Weltfurcht, einer realen oder eingebildeten, abzulenken. Ich trinke, weil es mir schmeckt, hauptsächlich Whisky. Aber ich bin nicht süchtig. Ich halte mich auch nicht für einen Gescheiterten, wie manchmal zu lesen ist. Warum auch? Das Scheitern ist ein Thema in meinen Romanen. Auf mich ist das nicht übertragbar.
Es gibt Äußerungen von Ihnen, die einen anderen Eindruck erwecken.
KOEPPEN: Man sagt so viel in Laufe der Jahre.
In einem Gespräch mit Christian Linder haben Sie von "tiefen Depressionen" gesprochen, von der "Unfähigkeit, mit dem Leben fertig zu werden."
KOEPPEN: Mag sein. Man hat auch geschrieben, daß man sich um mich kümmern müsse. Das hat mich geärgert.
Sie wollen kein Mitleid.
KOEPPEN: Nein, absolut nicht.
1961 erschien Marcel Reich-Ranickis berühmter Artikel 'Der Fall Wolfgang Koeppen", in dem er schlechte Kritiken für Ihr Verstummen verantwortlich machte.
KOEPPEN: Ja, aber so schlecht waren die Kritiken gar nicht. Das ist eine Legende. Ich war, als dieser Artikel erschien, in Athen und kaufte mir dort die Zeitung. Als ich die Überschrift sah, dachte ich, was hat er denn jetzt entdeckt? Habe ich vielleicht silberne Löffel gestohlen?
Sie haben andere Gründe für Ihr Nicht-Schreiben angegeben.
KOEPPEN: Ja.
Die Überflutung durch Schreckensberichte, die aus dem Fernsehen kommen.
KOEPPEN: Unter anderem.
"Die immerwährende Information, die Public Relations des Todes, das Fernauge im Bett läßt den Erzähler verstummen ... Im Meer der unerhörten Ereignisse ertrinken Autor und Leser."
KOEPPEN: Ja, ich sehe mir täglich die Sieben-Uhr-Nachrichten an.
Peter Handke hält das für einen Fehler. Er ist stolz darauf, sein Schreiben zu retten, indem er die Weltereignisse draußen läßt.
KOEPPEN: Das ist die Sache von Peter Handke.
Ist Literatur so wichtig, daß man sie auf diese Art schützen muß?
KOEPPEN: Ich bewerte das nicht. Ich würde, wenn ich nicht fernsähe, aus den Zeitungen wissen, was vor sich geht.
Aber Sie machen es nicht zum Stoff Ihrer Bücher.
KOEPPEN: Nein, doch täte ich es, wäre das sicher eine warnende Stimme. Ich würde schreiben, daß sich die Greuel, die gerade in Jugoslawien geschehen, nicht wiederholen dürfen.
Was würde das ändern?
KOEPPEN: Nichts.
Das Böse ist nicht aus der Welt zu schaffen.
KOEPPEN: Nein.
Hegel hat es als nötige Durchgangsstation zum Guten bezeichnet.
KOEPPEN: Das gefällt mir sehr gut. Aber selbst in diesem Satz verbirgt sich ein Vorwurf. Ich halte das Schreiben für eine Tätigkeit, zu der auch Moral gehört. Das heißt nicht, daß man sich positiv äußern muß. Man kann auch etwas Pessimistisches schreiben. Die Moral, die ich meine, ist heimlich, eine ganz kleine Giftpille, kein Kaiserdenkmal.
Das sind jetzt Worte.
KOEPPEN: Ja, soll ich singen?
In Ihrem Roman "Der Tod in Ron" vergleichen Sie den Menschen mit einem Esel. Sie schreiben: "Zum Glück hat man ihm Scheuklappen angelegt, damit er nicht merkt, daß es nie voran, sondern immer im Kreise geht, daß er keinen Wagen, sondern ein Karussell bewegt, und vielleicht sind wir eine Belustigung auf dem Festplatz der Götter."
KOEPPEN: Eine gelungene Stelle.
Ja, aber was drückt sie aus?
KOEPPEN: Ich sehe darin ein gewisses Mitgefühl mit dem Esel.
Nicht auch eine Anklage gegen die Götter, die sich an seinen Qualen erfreuen?
KOEPPEN: Nicht unbedingt. Ich sage nicht, Gott ist schuld. Die Frage, ob Gott recht tut, ist offen. Vielleicht kommt er gegen das Entsetzliche, das er geschaffen hat, nicht mehr an. Vielleicht ist er bestürzt über die eigene Schöpfung. Die Freude ist ihm vergangen. Aber das Karussell dreht sich weiter.
Wer so denkt, ohne sich abzulenken, der wird verrückt.
KOEPPEN: Ich riskiere den Wahnsinn.
In einer Wiener Zeitung war kürzlich zu lesen, Sie hätten sich in ein neunzehnjähriges Mädchen verliebt, das Sie heiraten möchte.
KOEPPEN: Darauf gehe ich ungern ein.
Trotzdem die Frage: Ist Liebe nicht auch eine Ablenkung im höchsten Sinne?
KOEPPEN: Dazu muß ich leider sagen, daß mich dieses Mädchen zeitlich nicht sehr in Anspruch nimmt. Ich treffe es manchmal. Aber eigentlich ist die Geschichte schon wieder vorbei. Mir wäre lieber, wenn Sie das weglassen könnten. Von einem Mann in meinem Alter wird erwartet, daß er seine Gedanken auf anderes richtet.
Auf den Tod.
KOEPPEN: Ja.
Wollen Sie lange leben?
KOEPPEN: So lange wie möglich.
In einer kurzen Erzählung*, die 1960 erschien, beschreiben Sie, was Sie im Jenseits erwarten.
KOEPPEN: Im Grab, nicht im Jenseits.
Da heißt es: "Nichts wird sein, kein Schmerz, keine Angst... Keine Engel. Kein Teufel. Nichts. Nur daß du es weißt."
KOEPPEN: Ja, grausig. Der Tod ist ein Nichts, aber dieses Nichts wird uns bewußt sein.
Woher wissen Sie das?
KOEPPEN: Ich weiß es nicht. Es ist mir eingefallen. Es muß ja nicht stimmen.
Haben Sie es geträumt?
KOEPPEN: Nein.
Seltsam.
KOEPPEN: Ja, ich finde, ein Schriftsteller muß etwas geheimnisvoll bleiben. Ich war einmal zu Besuch bei meinem ersten Verleger, Bruno Cassirer, der später nur noch der Jude Cassirer war. Der hatte ein Traberpferd, und da ich mit Pferden gut stehe, sprach ich es an. Cassirer stand daneben und sagte: Sie haben mit meinem Pferd gesprochen. Sonst schweigen Sie immer, ich weiß gar nichts von Ihnen, aber mit meinem Pferd sprechen Sie. Auf diese Weise kam es zu einem Vertragsabschluß, worüber ich natürlich sehr glücklich war.
Schriftsteller zu sein, war von Kind auf Ihr Wunsch.
KOEPPEN: Ja., als kleiner Junge habe ich ein Schild an meine Tür gehängt. Darauf stand: Herr Tod, Literat.
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*)"An mich selbst", später veröffentlicht unter dem Titel "Thanatologie"---------------
Erschienen am 15. November 1991 in der ZEIT unter der Überschrift "Ich riskiere den Wahnsinn"