In einem Erker, der zu einem Restaurantzimmer gehört. Durch die weiten Fenster sieht man einen See und Wälder um seine Ufer. An einem Tisch, dicht an den Scheiben, sitze ich. Ich lausche. Ich beobachte, ich bin viel allein. Manchmal bin ich auch einsam. Ich lausche den Gesprächen anderer. Manchmal sind sie auch nicht zu überhören. In der U-Bahn telefonieren junge Mädchen aufgeregt mit ihren Freundinnen, denn die Freunde der Mädchen sind ausnahmslos Arschlöcher.
Die U-Bahn ist ein neutraler Raum, dem Wartezimmer von Tierärzten entsprechend, in dem Hunde und Katzen einen Waffenstillstand halten, der ausschließlich auf Angst beruht. Sie sitzen da, riechen streng und wagen keinen Laut.
Hier am See ist es tatsächlich ruhig. Schneidend kalte, klare Luft. Schon schmerzen mir Lungen und Zehen. Ich mache nur einen kleinen Gang den See entlang. Zu DDR-Zeiten war die Lagunenlandschaft ein Naherholungsgebiet für Funktionäre.
Gert: Da setzen sich wirklich schon welche draussen hin.
Thom: Ja, wirklich. Ein bissel gewagt, nicht?
Gert: Das schon; aber nun werden sie nach Hause gehen und werden sagen: nun ist es aber wirklich Frühling; wir haben schon draussen gesessen.
Thom: Und das ist dann, als ob sie sagten: es ist uns allen etwas sehr Freundliches geschehen. Da hast du recht. Und schliesslich ist es das doch auch. Wenn ich eine Novelle schreiben würde, die heute begönne, würde ich auch so anfangen: An einem nachmittag mitten im hellen Frühling.
Gert: Eigentlich ist es ja mehr Balladenwetter, weißt du. Alles kühl und straff und blau und gold; aber wie würdest du weiterschreiben?
Thom: Das ist eben die Frage. Sieh mal, was jetzt draussen geschieht, das ist doch einfach das, dass es Abend wird, nicht wahr? Wenn du das sagst, weiß jeder, was gemeint ist. Wie würdest du das nun aber ausdrücken, wenn du es gewissermassen künstlerisch ausdrücken würdest? Neu? Eigentümlich?
Gert: Aber da kann ich dir jetzt wirklich keine Antwort geben.
Thom: Überlege es dir doch bitte mal. Siehst du es denn nicht auf irgendeine besondere Weise?
Gert: Ich glaube nicht. Aber vielleicht - warte mal – so:
Es ward Abend, große graue Vögel kamen aus den Wäldern und flogen über den See und über das Land; und auf allem, das sie überflogen hatten, blieb ein Schatten zurück. Weißt du, ich würde es vielleicht so malen können: große Vögel reiherähnlich, rauchgrau an Brust und Hals, brechen aus einem Gehölz; auf ihren Flügeln müsste etwas liegen von dem Schatten der Wälder, die sie durchflogen haben, und das gleitet nun gewissermassen herab; das müßte man eben darstellen, so das Sinkende, Niederrieselnde von ihren Flügeln, daß man es glaubte, wenn hinter ihnen alles Land in Schatten läge. Nun, und du?
Thom: Ich würde wohl einfach sagen müssen, was geschieht: Die Wälder wurden uns ferner; von Nebeln eine dünne Haut legte sich über den See; das Licht wurde zarter und durchsichtiger und nahm an Fülle ab.
Ich lese. Du sagst, du liest nicht, es macht dir ein schlechtes Gewissen, als sei es vertane Zeit. Ich lese, um wirklich zu werden. Es ist viel Abstand da zu den anderen.
Thom: Da sitzt er nun, der ausgezogen war, um ein großer Künstler zu werden, der seine Seele hatte durchrütteln lassen von allen Sensationen moderner Kultur und Wissenschaft, da sitzt er nun und fühlt mit Behagen in seinen Muskeln und Gelenken die Müdigkeit, die aus körperlicher Arbeit kommt, die man jedoch auch durch Alkoholmissbrauch erreichen kann und starrt wie mit ausgelöschten Hirnfunktionen auf die rhythmisch wogenden Kornfelder. Für ihn gibt es nichts Zuständliches; er sieht alles kommen von weither und seinen Weg gehen und über einen Moment dieses Weges sagt er schnell ein Wort. Und wenn er zwei Menschen zusammenführt in seinen Büchern, so gehen sie wohl eine Strecke zusammen und leben ein Stück Leben zusammen, aber bald gehen sie auseinander und nehmen kaum Abschied.
Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem Gefühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen, er weiß, daß es dieselben Flüsse nicht mehr sind, auch wenn wir in dieselben Flüsse steigen. Er schreibt: ' Ich habe nie etwas Abgeschlossenes in einem Verhältnis zwischen Menschen gesehen. Wenn sie auch sieben mal siebenundsiebzig mal abschließen, so fährt es doch fort weiterzuleben und kann kommen und verlangen, noch einmal abgeschlossen zu werden.'
In einem 'Sozialen Buchladen', in dem sich die Ein-Euro-Jobber sich hauptsächlich daran machen, die große Unordnung im Laden, die „im 'Einzelhandel' ganz unvorstellbar wäre“, möglichst effektiv zu beseitigen, was zur Folge hat, daß sämtliche Bücher in zwei Reihen fest hintereinander geklemmt und somit nur unter großen Anstrengungen einsehbar sind, entdecke ich ziemlich schnell ob seines leuchtend gelben Umschlags den MÄRZ-Band 'Die Reise' von Bernward Vesper.
Auf dem Cover ist nicht, wie ich auf den ersten Blick annehme, die Verladerampe von Auschwitz-Birkenau zu sehen, sondern ein Bahnhof auf dem deutschen Land, in der Nähe von Hamburg, mit dem Namen 'Triangel'. 'Triangel','Tötensen','Herzsprung', 'Wüstenjerichow' und 'Waldfrieden'. Deutsche Ortssschilder.
Das Schild steht nicht mehr da. Die Uhr zeigt eine andere Zeit an. Geblieben sind die Schienen, die in der Ferne aufeinander zu laufen. Erst wenn man mitten auf dem Bahnsteig steht, sieht man den Namen des Bahnhofes. Auf einem neuen Schild, seitlich aufgestellt, das glänzt wie frisch poliert: "Triangel" steht da.
Tausende erst, später Zehntausende haben diesen Namen eines Bahnhofs gelesen, haben auf die Uhr geschaut, die immer sieben Minuten vor Eins anzeigte. Darüber zog ein grell gelber Himmel auf, von fast giftiger Färbung. Das alles zusammen ergab das Umschlagfoto für einen der vielleicht wichtigsten Berichte über die Achtundsechziger: den Roman "Die Reise" von Bernward Vesper, ein Protokoll ihrer Herkunft aus den dumpfen Fünfziger Jahren, eine Ableitung ihres Handelns als Söhne und Töchter der Nazigeneration; gedacht als Dissertationsschrift und erstmalig aufgelegt im Juli 1977.
Die Gußeiserne Inschrift 'Arbeit macht frei', die vom Torbogen des Eingangs des Stammlagers Auschwitz I gestohlen wurde, ist wieder aufgefunden worden. Hintergrund der Tat sei ein wirtschaftlicher.
(Der originale Schriftzug wurde in den frühen Morgenstunden des 18. Dezember 2009 gestohlen. Noch am selben Morgen wurde er durch eine Kopie ersetzt, die bereits für den Einsatz während Restaurierungsarbeiten angefertigt worden war.)
Was macht man mit so einer Schrift, gußeisern, schwerwiegend - 'Arbeit macht frei'? Stellt man sie im Vorgarten auf, hat man ein Privatmuseum im Keller, Ausschwitzschrift und Brekeradler und den passenden Panzer in der Garage, oder schmilzt man das ein, das Metall?
(Der Nachbar deiner Eltern hat so einen Panzer im Keller, den er einmal im Jahr durch den reichen Vorort der Hafenstadt manövriert. Im Garten hält er in einer Hundehütte zwei scharfe Rottweiler, die den gußeisernen Adler im Garten bewachen, der Nacht für Nacht ab und zu von den Scheinwerfern der Bewegungsmelder angestrahlt wird.)
Von anderer Haltung geprägt, also völlig andere Handlung, aber auffallend nüchtern, pragmatisch, auch der Vorgang, die gestohlene, also fehlende, Eingangstorschrift sogleich durch eine Reproduktion zu ersetzen. Als dürfe das ikonische Bild des Tores mit der Schrift auf keinen Fall zerstört werden durch diese fehlende Schrift. Als könne man ohne 'vollständiges' Bild über den Vorgang des Diebstahles medial nicht berichten.
Die Aussage „Arbeit macht frei“ wird gelegentlich ohne historischen Kontext verwendet. Mangelnde Kenntnis über diesen führt regelmäßig zu einem Eklat. Strafrechtliche Konsequenzen sind für ein Versehen nicht zu befürchten. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Fehltritt ist eine Äußerung der Moderatorin Juliane Ziegler im Januar 2008.
Juliane Ziegler ist in Berlin aufgewachsen. Nach ihrem Realschulabschluss absolvierte sie eine Ausbildung zur Schornsteinfegerin. Nach bestandener Gesellenprüfung entschied sie sich für eine Karriere beim Fernsehen. 2003 war sie von einer Freundin zum Casting für die RTL-Show Der Bachelor angemeldet worden.
Seit November 2008 ist Juliane Ziegler als Moderatorin und Reporterin für center.tv Heimatfernsehen Ruhr tätig. Dort führt sie u.a. durch das Reportageformat center.tv mobil vor Ort, die Kochshow Im Henkelmann serviert oder die Nachrichtensendung Heimat Kompakt. Für das ProSieben-Wissensmagazin Galileo ist sie seit Mai 2009 als On-Air-Reporterin im Einsatz, v.a. für Experimente in der Rubrik Galileo eXtrem.
22.12.09
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